Asperger-Autisten definieren Autismus

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Vorwort: Kein Autist ist gleich, und nicht jeder Autist wird mit den Definitionen von Autismus übereinstimmen, die andere Autisten machen. Gerade schwer beeinträchtigte Autisten mit massiver Reizüberflutung (evtl. verbunden mit Epilepsie) werden die Definitionen von “hochfunktionalen” Autisten eher mit Skepsis beurteilen. Auch Angehörige mit erhöhtem Betreuungsaufwand werden den neutral gehaltenen Definitonen nicht immer zustimmen. In wenigen Fällen, wo sich etwa frühkindliche Autisten übers Netz mitteilen können, ist auch bekannt, dass sie sich durch Asperger-Autisten vertreten fühlen. Umgekehrt empfinden auch einige Asperger-Autisten ihren Autismus eher als Behinderung oder Last denn als Befähigung oder schlicht andere Wahrnehmung. Bitte verallgemeinert nicht, weder in die eine noch in die andere Richtung!

Autismus ist eine medizinische Diagnose und als solche erst einmal negativ behaftet.

Autismus ist griechisch und heißt Selbstbezogenheit.

Autismus steht im allgemeinen Sprachgebrauch und in vielen Metaphern für Egoismus, Kontakt- oder Kommunikationsunfähigkeit, “in seiner eigenen Welt leben” und manchmal auch für geistig zurückgeblieben und unfähig zu sprechen.

Kommunikation findet statt

Das Internet stellt sich als Segen für Autisten heraus, nicht nur, weil sie Gleichgesinnte finden und mühelos mit ihnen kommunizieren können, sondern weil Außenstehende erstmals sehen, dass hier sehr wohl Kommunikationsfähigkeit vorliegt – sogar noch mehr, Kommunikationsfreudigkeit bei schreibwütigen Autisten. Das führt die Definition der Selbstbezogenheit ein wenig ad absurdum. Autisten wollen sich mitteilen, nur in der Intensität und Auswahl der Kontakte sind sie differenzierter als ihre nichtautistischen Mitmenschen. Für manche genügt ein Blog, sie wünschen aber keine Kommentare, andere geben sich wortkarg, haben dann aber wirklich etwas zu sagen. Ein gewisses, grundsätzliches Mitteilungsbedürfnis ist aber bei den meisten vorhanden. Negativ behaftete Charaktereigenschaften wie Egoismus, Narzissmus, Manipulation, Mobbingverhalten haben nichts mit Autismus oder Nichtautismus zu tun – man findet es bei beiden. Autisten sind keine Heiligen und Nichtautisten nicht per se sozial.

Eine andere Wahrnehmung

Wenn man sich aber anschaut, was die zentralen Kernfaktoren von Autismus sind, gehen die Ansichten inzwischen auseinander. Kommunikation und Interaktion weichen von der Mehrheitsgesellschaft ab. Inzwischen wird Autismus jedoch generell als neurologisch abweichende Wahrnehmung bezeichnet. Andersartige Kommunikation und Interaktion sind entsprechend eine Folge dieser anderen Wahrnehmung. Warum ziehen Autisten etwa die schriftliche Kommunikation vor? Weil Blickkontakt ermüdet, weil äußere sensorische Reize ablenken und ermüden, weil man Zeit braucht, um sich seine Worte zurechtzulegen und angemessen zu reagieren. Aber: Sie kommunizieren! Und der Siegeszug des Internets, der SMS und der E-Mail und sämtlicher “sozialer” Messenger zeigt, dass Nichtautisten die schriftliche Kommunikation selbstverständlich übernommen haben, und sie sogar teilweise der mündlichen überwiegt. Längst nicht nur Autisten fühlen sich durch Anrufe in ihrer Privatsphäre gestört. Der technische und gesellschaftliche Wandel schwächt Autismus-Symptome teilweise ab.

Ian Ford, Asperger-Autist und Buchautor von A Field Guide to Earthlings. An Autistic/Asperger view of neurotypical behavior, formuliert die Autismus-Definition so:

Autismus sei eine ungefilterte Wahrnehmung, die zu einer hohen Sensibilität gegenüber Reizen führt. Autisten nehmen Gesagtes wörtlich wahr und interpretieren es nicht intuitiv nach sozialen Codes (oder wie Sheldon Cooper es ausdrückt: nichtoptionale Gesellschaftskonvention). Sie sind folglich kulturell unangepasst und aufgrunddessen kognitiv unabhängig (“Thinking outside the box”, “gegen den Strom schwimmen”).

Symptome wie Spezialinteressen, strikte Routinen oder Stimming (repetitive Verhaltensweisen) sind Kompensationshandlungen, um mit der ungefilterten Wahrnehmung umzugehen.

Ford benennt außerdem die schiere Überzahl an neurotypischen Menschen als Ursache dafür, dass Autisten wenig bis gar keine Gelegenheit haben, Gleichgesinnte zu treffen und zwischenmenschliche Tiefe und Fähigkeiten reifen zu lassen, zudem wird die autistische Person ständig durch Neurotypische verurteilt und genötigt, was als Niedermachen wahrgenommen wird: der Selbstwert gerät ins Wanken, was zu chronischem Stress, Angst und Depression führen kann.

Weitere Ursachen von ausgeprägten Angstsituationen erläutert Gee Vero in ihrem Buch Autismus – (M)eine andere Wahrnehmung infolge einer überreagierenden Amygdala, die selbst dann Gefahr signalisiert, wenn Neurotypische keine Gefahr erkennen.

Leichter oder schwerer Autismus? (nach Ian Ford)

  • a) schwerer = erscheint untypischer?
  • b) schwerer = schwerer im Alltag beeinträchtigt oder mehr Hilfe benötigt?
  • c) schwerer = weniger Bewältigungsstrategien entwickelt?

Temple Grandins Ansicht in The Autistic Brain zu den Stärken von Autisten:

Die Stärken von Autisten sind nicht das Nebenprodukt einer schlechten Verdrahtung, sondern Produkt der Verdrahtung im Gehirn.

Im Buch von Ford wird auch eine Autistin zitiert, die beschreibt, was es mit den Emotionen bei Autisten auf sich hat:

Autisten fühlen sensorisch und emotional stärker als Neurotypische, sie sind außerdem Emotionen gegenüber empfindlicher und erfassen sie schneller und stärker. Autisten haben regelrecht ein Wechselbad der Gefühle, während Neurotypische tendenziell emotional beharren. Problem: Autisten erhalten sehr schlechte Daten über das, was sie und andere fühlen, was sie aus dem Konzept wirft und unmöglich macht, die ”richtige” Antwort herauszufinden.

Eine autistische Bloggerin kann sich durchaus mit dem neuen Begriff Autismus-Spektrum besser anfreunden als mit der Einteilung in Autismus und Asperger:

Asperger ist bloß ein anderes Wort für “hochfunktional” und die Trennlinie zwischen Autismus und Asperger war immer komplett willkürlich. Aus traditioneller Sicht ist “Autismus” mit Hypolexie (Sprachverzögerung) verbunden, während “Asperger” mit Hyperlexie (fortgeschrittene Sprache) daherkommt. Aber viele “klassische Autisten” waren hyperlexische Kinder, und viele mit Asperger diagnostizierte waren hypolexisch. Der neue DSM vereint alle diese unterschiedlichen Begriffe unter dem selben Diagnose-Überbegriff Autismus-Spektrum-Störung (ASD). Die Kriterien sind nun auch für Erwachsene gültig, die gelernt haben, ihre Kindheitssymptome zu kompensieren. Ich glaube, dass in Zukunft, wenn die Forschung voranschreitet, der ASD-Oberbegriff erneut in spezifischere Subtypen von Autismus aufgeteilt werden wird – die sich nach außen ähnlich zeigen, aber verschiedene Ursprüngen aufweisen und von verschiedenen Therapien und Behandlungen profitieren. Doch derzeit brauchen wir meinem Empfinden nach am dringlichsten das Niederreißen sprachlicher Barrieren.

Theoretisch gäbe es drei Möglichkeiten, Autismus zu diagnostizieren – über Verhalten (praktiziert), über neurologische Scans (widersprüchliche Ergebnisse) und über genetische Besonderheiten bei autistischem Verhalten (ca. 10-20 % aller Autismus-Diagnosen). Auffallend bei Temple Grandin war etwa, dass sie in den ersten Jahren nicht gesprochen hat, dafür ist ihr visueller Gehirnbereich 400 % größer als bei anderen Menschen. Visuell-betontes Denken hat man auch bei weiteren Syndromen mit teilweise sprachlichen Einschränkungen nachgewiesen, z.B. bei Klinefelter-Syndrom oder Down-Syndrom.

Und für mich …?

… ist Autismus gleichermaßen mit Stärken und Schwächen verbunden, die ich nicht trennen kann. Ich definiere mich nicht nur durch eines von beidem, ich kann meinen Autismus aber auch nicht komplett ignorieren, er ist ein Teil von mir und begleitet mich jeden Tag. Manchmal sind Symptome kaum merkbar, manchmal sind sie stark. Es gibt gute und schlechte Tage. Eine andere Wahrnehmung kann man weder abschalten noch umerziehen. Und das ist auch gut so, trotz aller Nachteile, die in einer neurotypischen Mehrheitsgesellschaft daraus erwachsen.

Ian Ford hat einen abschließenden Rat in seinem Ratgeber:

Bleib authentisch und bewahre Deinen natürlichen Vorteil!

6 thoughts on “Asperger-Autisten definieren Autismus

  1. blutigerlaie 1. February 2016 / 9:57

    Hat dies auf yowriterblog rebloggt und kommentierte:
    Reblog von autistenbloggen – Grundlegend.

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  2. lizzzy07 1. February 2016 / 13:00

    “Und für mich …?

    … ist Autismus gleichermaßen mit Stärken und Schwächen verbunden, die ich nicht trennen kann. Ich definiere mich nicht nur durch eines von beidem, ich kann meinen Autismus aber auch nicht komplett ignorieren, er ist ein Teil von mir und begleitet mich jeden Tag. Manchmal sind Symptome kaum merkbar, manchmal sind sie stark. Es gibt gute und schlechte Tage. Eine andere Wahrnehmung kann man weder abschalten noch umerziehen. Und das ist auch gut so, trotz aller Nachteile, die in einer neurotypischen Mehrheitsgesellschaft daraus erwachsen.”

    So ähnlich definiere ich das auch für mich.

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  3. Chutzpe 1. February 2016 / 19:15

    Ich schliesse mich Lizzy07 an.
    Ausserdem erwachsen der neurotypischen Mehrheitsgesellschaft daraus auch Vorteile, nicht nur Nachteile.

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  4. robins 3. February 2016 / 12:09

    Alkohol macht Menschen (vermeintlich) kontaktfreudiger. Wie wirkt Alkohol auf (Asperger)Autisten?

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    • Forscher 3. February 2016 / 12:42

      Ha, eine Gratwanderung! Einerseits dämpft Alkohol die Reizoffenheit, aber andereres löst es die Zunge mitunter zu sehr. Ich würde davon abraten.

      Liked by 1 person

    • samsalixia 26. October 2019 / 14:27

      Ich kenne einige, die Alkohol quasi als Selbstmedikation verwenden um „sozialer“ zu werden (und hab mich selber mit Mitte 20 beinahe in Alkoholismus „medikamentiert“) . Das funktioniert für diejenigen, bei denen die Reizwahrnehmung gedämpft und die Hemmschwelle gesenkt wird.
      Für andere senkt Alkohol die Fähigkeit Reize/Themen/Emotionen… zu filtern und verarbeiten und sie fühlen sich noch schneller von allem völlig erschlagen.

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