Autismus im Job: Gute Jobs für Autisten?

Nachdem der Autor auf meinen Kommentar unter einem Text in der  “Karriere-Bibel” nicht reagiert hat, nun etwas prominenter:

„Verallgemeinerungen sind immer heikel, auch reicht das Spektrum hier immerhin von frühkindlichem Autismus bis hin zur Inselbegabung.“

Frühkindlicher Autismus ist kein Antonym zur Inselbegabung – ein Vergleich von Äpfel und Birnen.

Der Autor suggeriert, dass frühkindliche Autisten eine geringe Intelligenz und/oder Begabung aufweisen.Tatsächlich hängt das Ergebnis der Intelligenztests davon ab, ob es sich um den Standard-IQ-Test von Wechsler (teilverbal) oder den komplett nonverbalen Ravens Matrizentest handelt. Autisten, die Sprachdefizite aufweisen, schneiden je nach Test deutlich besser oder schlechter ab. Frühkindlicher Autismus ist kein Synonym für unbegabt oder unintelligent! Auf der anderen Seite ist Inselbegabung kein Synonym für Autismus (unter inselbegabten Menschen finden sich genauso Nichtautisten), und jene Autisten mit Inselbegabung können massive Probleme haben, ein selbstständiges Leben zu führen.

Beispiel: Drücken Sie einem Nicht-Autisten 70 Euro in die Hand, dann zockt er mit dem Geld mit ungleich höherer Wahrscheinlichkeit dann, wenn er “50 Euro verlieren” kann, als wenn er “20 Euro behalten” kann. Die Aussicht, Geld zu verlieren, verstärkt in uns den Drang, dieses Szenario aktiv zu verhindern. Dabei sind beide Szenarien im Prinzip völlig identisch. Einen Autisten hingegen würde dieses Psycho-Spielchen völlig kalt lassen, er würde rein rational entscheiden.

Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Es hängt auch davon ab, ob man zu impulsiven Verhalten neigt, was etwa beim (häufig) komorbidem ADHS der Fall sein kann. Es ist einfach verkehrt, von Autisten zu erwarten, sie entscheiden immer rational. Ebenso wenig sind sie immer impulsiv.

„Autisten verstehen nur schwer Sarkasmus oder Ironie, können keinen Smalltalk, Sozialkompetenz ist sicherlich nicht ihr Steckenpferd. In Bereichen, in denen man andere Menschen führen, beraten oder lesen muss – zum Beispiel im Personalwesen – dürften Autisten in der Regel überfordert sein.“

Das weise ich entschieden zurück! Unter meinem autistischen Freundes- und Bekanntenkreis befinden sich auch Psychologinnen, Lehrerinnen oder Therapeutinnen, die meines Wissens einen großartigen und sehr einfühlsamen Job machen. Ich glaube, dass Autisten durch ihre eigenen, oft schmerzlichen Lebenserfahrungen sich manchmal besser in andere hineinversetzen können als viele Nichtautisten, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Gerade in solchen Fällen ist Smalltalk oft ein Hemmschuh, da das „um den heißen Brei herumreden müssen“ keine Verbesserung eines unbehaglichen Zustands hervorruft. Erfahrungen aus Firmen mit autistischen Mitarbeitern zeigen im Gegenteil, dass die Direktheit und Ehrlichkeit auch auf das Team überspringen kann und so generell eine für alle angenehmere Atmosphäre schafft, in der man offen reden kann.

Auch in einer Führungsrolle muss Autismus kein Hindernis sein, das hängt von den Anforderungen und der Organisation ab. Gerade weil Autisten weniger nach Bauchgefühl als rational entscheiden, wären sie sogar besonders geeignet. Allerdings verlangt die Führungsrolle viel Fingerspitzengefühl und Beziehungspflege, hier kann ein Zuviel an Sachlichkeit durchaus schwierig werden, es ist aber nicht unmöglich!

„Typische Einsatzfelder liegen dagegen im IT-Bereich, für die Arbeit mit dem Computer sind Autisten geradezu prädestiniert.“

Die Studie von Lorenz und Heinitz (2014), http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0100358#pone.0100358-Schwarzer3

zeigt, dass das autistische Interesse vielfältiger ist als häufig suggeriert. Wie oben erwähnt, findet man in allen Bereichen Autisten. Nur: Ein beträchtlicher Anteil ist nichtdiagnostiziert und hat seine ökologische Nische gefunden, in der oder sie glücklich wird, ein weiterer Teil hat zwar eine Diagnose, hat sich aber nicht geoutet, weil er oder sie zurechtkommen oder Angst vor Repressalien haben, wenn aufgrund einer Offenlegung kein Vertrauen mehr in die Fähigkeiten gegeben wird.

„Es gibt sicherlich eine Reihe adäquater Einsatzfelder, die erst noch entdeckt und freigelegt werden müssen.“

Es gibt sie bereits, und sie müssen nicht entdeckt und freigelegt werden, weil Autisten sogenannte Spezialinteressen aufweisen und darin gut sind. Der Autor hätte für die Recherche seines Texts durchaus Meinungen und Erfahrungen von Autisten bemühen können. Hierfür gibt es Twitter(-Hashtags), aber auch öffentliche Foren, wo recherchieren oder Fragen stellen kann. Ebenso gibt es zahlreiche Blogs im Netz. Es reicht mitunter schon, die zunehmende Auswahl autobiographischer Bücher zu betrachten, die von Literaturwissenschaftlern über Journalisten bis zu Künstlern reicht.

Wiederholende Abläufe
KEIN Zeitdruck

Jein… idealerweise ja, aber was ist schon ideal? Das wissen auch Autisten. Wer in bzw. mit seinem Spezialinteresse arbeitet, toleriert auch gewisse Einschränkungen. Manche Autisten mögen – geplante – Abwechslung und andere kommen mit Zeitdruck klar, wenn eine klare Prioritätenliste gegeben ist, d.h., bei Zeitdruck muss klar sein, in welcher Reihenfolge etwas erledigt werden muss, eine umfassende Vorbereitung nimmt Stress weg. Unter diesen Voraussetzungen ist auch Zeitdruck für eine gewisse Zeit tolerabel. Jeder Mensch, ob Autist oder Nichtautist, besitzt hier seine persönliche Schmerzgrenze.

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Verkehrslärm und Kommunikation

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Die häufigste Aussage auf Lärmempfindlichkeit ist “Du gewöhnst Dich dran!”

Das hängt jedoch stark von der Lärmquelle ab. An gleichmäßige und regelmäßige Geräusche kann ich mich leichter gewöhnen, etwa, wenn die Straßenbahn immer im gleichen Intervall nahe der Wohnung vorbeirattert, wenn man in der Ferne den gleichmäßigen Geräuschpegel einer Autobahn hört, wenn im Kaffeehaus – ohne Musik! – ein Klangteppich aus Gesprächen in normaler Lautstärke entsteht.

Sich an unberechenbare, plötzliche, unregelmäßige Geräusche gewöhnen? Eher nein. Auch nach vier Jahren Wohnen in einer Seitengasse kann ich das Fenster nicht allzu lange öffnen, ohne von beschleunigenden, hupenden, quietschend abbremsenden Auto- oder Motorradfahrern gestört zu werden. Es gibt aber grundsätzlich Phasen, je nach Alltagsform, wo es länger tolerierbar ist. Verkühlungen, depressive Grundstimmung, Schlafstörung und Anspannung verstärken die vorhandene Empfindlichkeit. Wenn ich mich zudem bereits über Stunden hinweg erhöhter Reizbelastung aussetzen musste, bringt eine weitere Situation mitunter das Fass zum Überlaufen. Im Gegensatz zu früher weiß ich das alles jetzt aber und kann gegensteuern.

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Social Media: Immer erstrebenswert?

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Obwohl ich Politik aus diesem Blog weitgehend heraushalten möchte, geistern die Gedanken seit einiger Zeit in meinem Kopf herum. Über Fluch und Segen des Internets habe ich bereits ausführlich geschrieben. Ich – und wahrscheinlich viele andere auch – hätte es nicht für möglich gehalten, dass wir in ein Zeitalter einzutreten drohen, das es zuletzt vor über 80 Jahren gegeben hat. Angela Merkel hat im Juni 2013 in einem anderen Zusammenhang einmal  gesagt “Internet ist Neuland.” Das wurde – rund 20 Jahren nach dem Populärwerden des Internets – oft belächelt. Wir haben übersehen, dass dieses Internet – wie jede gesellschaftliche Errungenschaft – nicht nur Gutes hervorbringt. Das fällt uns jetzt auf den Kopf. In unserem naiven Weltbild hätte die globale Vernetzung zum Abbau von Vorurteilen und kommunikativ erleichtertem Miteinander führen sollen. Gerade für uns Autisten sind soziale Medien daher ein Segen, weil wir barrierefrei – nicht hürdenfrei – kommunizieren können. Continue reading

Briefe an einen zehnjährigen Autisten

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Hintergrund:

Ein zehnjähriger Autist findet seinen Autismus peinlich und sieht sich selbst als defekt.

Alle Autisten waren mal zehnjährige Autisten und das Aufwachsen mit Autismus war für die meisten von uns alles andere als leicht.

Daher rufen wir alle Autisten (egal welchen Alters) dazu auf, einen Brief an den zehnjährigen Autisten zu schreiben um ihm dabei zu helfen, Autismus als Teil von sich anzunehmen und herauszufinden, wie großartig es auch sein kann anders zu sein.

Quelle: http://briefeaneinenautisten.tumblr.com/post/117540124631/%C3%BCber-die-aktion

Folgender Text wurde von mir bereits auf einem anderen Blog veröffentlicht, ist inzwischen leider gelöscht worden.

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Karriere-Standard, 12.11.16: Richtigstellung!

Besonders gelungen empfinde ich den Text von Martin Jan Stapanek auf Futurezone, der die Veranstaltung von Specialisterne & Anecon am Dienstag, 8.11., zusammengefasst hat.  Nicht so gelungen ist der Absatz über mich, der im Karriere-Standard vom 12.11.16 erschien. Ich möchte für jene, die meinen Blog finden, folgendes klarstellen:

Meine Aussagen über Lärmempfindlichkeit, viele Erholungspausen und “Probleme, auf andere Kollegen zuzugehen” bezogen sich auf die Frage, warum Autisten das Studium schwerfällt. Ich bezog mich ausdrücklich nicht auf meinen Berufsalltag. Zudem erwähnte ich zu allen Schwierigkeiten, die ich im Anschluss an diese Frage im Hinblick auf den Berufsalltag nannte, mögliche Lösungswege. Die Veranstaltung stand unter dem Licht autistischer Stärken, nicht Schwächen, was im restlichen Text von der Redakteurin ja auch deutlich gemacht wird.

Es macht übrigens auch einen wesentlichen Unterschied, ob man alleine in eine Ausbildung, Studium oder Beruf eintritt, und niemanden kennt, oder ob man in ein Umfeld kommt, wo bereits vertraute Menschen sind. Letzteres war bei mir bisher immer der Fall. Nachdem ich mehrere Jahre 100 % Schichtdienst gearbeitet habe, und dies sicherlich fordernd ist, kann ich dennoch sagen, dass es machbar ist. Das hängt nicht nur von der Dauer des Dienstes, sondern auch von Organisation und Atmosphäre ab.

Meine Absicht bei dieser Veranstaltung war, lösungsorientiert zu argumentieren und nicht die Schwächen alleine stehen zu lassen, wie es jetzt leider in der Print-Ausgabe geschehen ist.