Abschied nehmen

Bisher war das Sterben immer woanders. In den Aufnahmen aus anderen Ländern, im entfernten Bekanntenkreis. Ältere Menschen. Die ersten Tage hatte ich selbst noch Panik, konnte kaum atmen. Die Pandemie war sehr nah. Ich hab mich erstmals mit dem Thema Patientenverfügung befasst und was bei einem Testament wichtig ist. Bald ließ ich den Gedanken wieder fallen, zu unwirklich, zu weit weg. Verdrängung. Von der Familie in Deutschland getrennt zu sein, die ich letzte Woche getroffen hätte zum gemeinsam Geburtstag feiern, das ist eine Sache. Ein Zustand, der nicht veränderbar ist. Selbst wenn die Grenzen wieder öffnen, sind mir sieben Stunden Zugfahrt zu gefährlich und mit Maske auch zu unbequem. Und umgekehrt möchte ich unter diesen Umständen auch keinen Besuch “aus der Risikogruppe”, denn ich möchte nicht unbewusst jemanden anstecken, der daran sterben kann. Wobei ich nicht einmal weiß, wie sehr ich selbst überhaupt davor geschützt bin.

Die Freunde vor Ort sind jetzt wichtiger denn je. Risiken in Kauf nehmen, im gegenseitigen Einverständnis, aber nicht völliger Abbruch von Kontakten. Und nicht zu allen die geforderte Distanz halten müssen. Ich lese und schreibe seit sieben Jahren auf der Twitter-Plattform mit. Viele Kontakte sind entstanden, einige geblieben, sehr wenige wurden zu engen Freundschaften. Ich hab die regelmäßigen Twitter-Treffen im Tachles immer gemocht, trotz der Enge und Lautstärke. Zwischendrin war dann meine Autismus-Diagnose und ich wusste plötzlich, warum die Lokalbesuche für mich so anstrengend waren. Ich bin auch nicht mehr so belastbar, war immer geräuschempfindlich, aber kann mich nicht gut unterhalten, wenn mehrere Menschen auf engem Raum zusammen sind, mit dem sonstigen Geräuschpegel. Das erschöpft sehr schnell, ich bekomme akustisch wenig mit, muss oft nachfragen, sage keine drei Sätze am Abend. Das sind die Situationen, wo ich den Autismus und die zugehörige Reizfilterschwäche als Behinderung empfinde. Viele Kontakte gingen über Twitter zum Glück weiter, auch wenn man sich nie getroffen hat.

Ich hab M. jahrelang gerne gelesen, bin ihr damals vermutlich wegen ihrem Kater gefolgt, eine prächtige, flauschige Katze mit riesigen Samtpfoten, wie kleine Kissen. Und sie hatte diese herzliche wienerische Art zu Granteln, dieses halbernst gemeinte Sudern über irgendetwas, hatte einen tollen Humor. Mit den Jahren bekommt man so vage mit, was jemand sonst so macht. Ich las von ihrer Liebe zum Fußball, dem Wiener Sportclub, von den Konzerten, die sie besucht hat, und zwischendurch immer wieder Fotos und Videos von ihrem Kater. Als Katzenliebhaber ohne eigene Katze war das oft Balsam für die Seele. Manchmal sprach sie mir aus der Seele, wenn sie sagte, dass ihr bisweilen die Menschen am Oasch gehen (natürlich nicht alle, aber wenn sie draußen unterwegs war), dass sie lieber alleine ist, sie war immer ehrlich und direkt. Ich konnte das gut nachvollziehen. Es gibt nicht allzuviele Menschen, die diesen “Schuss” Autismus haben, positiv gemeint, mit denen ich mich sofort identifizieren kann. M. gehörte dazu. Leider hab ich sie nur ein einziges Mal getroffen, vor vielen Jahren im Tachles, als sie gemeinsam mit einer weiteren Twitterbekannten kam. Es war viel los, wir saßen am großen Tisch und sie saß am anderen Ende. Wir haben uns nicht unterhalten können. Ich hatte immer gehofft, es ergäbe sich mal eine Gelegenheit, sie und ihren Karl zu besuchen, ein Katzenstreichelbesuch. Das war nur ein winziger Ausschnitt ihrer tollen Persönlichkeit, in den ich Einblick hatte, ihre Liebe zu den Katzen und ihren Humor. Leider hab ich mich nie getraut, sie zu fragen, wie so oft, wo ich denke, eigentlich wäre es schön, wenn man sich einmal treffen könnte. Aber ich hab kein gutes Gespür dafür, ob sich der andere auch treffen mag. Zu oft bin ich damit auf die Nase gefallen. Ich glaube, es wäre zustande gekommen, sie wusste ja von meiner Katzenliebe. Ich erinnere mich noch, als wir beide im 16. Bezirk wohnten und sie immer an einem Fenster mit Katzen vorbeikam. Ich ließ mir von ihr genau beschreiben, wo das Fenster war, und sah tatsächlich die Katzen und war ganz glücklich.

Jetzt kann ich sie nicht mehr fragen, denn sie ist vergangenen Montag im 40. Lebensjahr gestorben. Stunden zuvor hatte sie noch getwittert und am nächsten Tag erfuhr ich, dass sie tot sein sollte. Konnte es nicht glauben. Es kommt mir jetzt auch noch so unwirklich vor. Und sie wird in meiner Timeline fehlen. Meine Trauer ist nur ein Bruchteil der Trauer, die jene empfinden, die sie persönlich gekannt haben. Das lässt einen nicht so schnell los, und in Zeiten einer Pandemie, wo das Thema Tod und Sterben noch viel näherrückt, als sonst, ist es noch schwieriger, dies zu verarbeiten. Ich fühle mit denen, die ich gut kenne und die sie besser kannten als ich. Die es kaum fassen können. Es kam auch völlig unerwartet, und selbst erwartet muss man es noch lange nicht begreifen.

Die Angst vor dem Alleinsein ist seitdem größer geworden. Was ist, wenn es mir rapide schlechter geht und keiner bekommt es mit? Zugleich mahnt es, gemeinsame Vorhaben nicht ewig zu verschieben, Gelegenheiten nicht auszulassen. Die Pandemie hat bereits aufgezeigt, was das bedeutet, nicht nur geschlossene Grenzen, auch Berührungen zu vermeiden. Obwohl es genau das ist, wonach sich viele von uns derzeit sehnen, um diese Lebenskrise, die zur Weltkrise geworden ist, durchzustehen.

Das alles macht sehr nachdenklich und traurig. Es lässt mich auch an Freundschaften der letzten Jahre denken, die einfach so auseinander gingen, ohne den genauen Grund je erfahren zu haben. So sollte das nicht enden. Die Gelegenheit, sich auszusprechen, kommt vielleicht nie wieder. Es ist ein ehrenwertes Vorhaben, sein Leben jetzt bewusster zu leben. Jeden Tag richtig zu leben, weil es so schnell gehen kann. Zu sagen, was man denkt, jemandem zu sagen, wie lieb man ihn hat, es nicht nur zu denken, sondern wirklich zu zeigen. Zu oft scheitert es an der Alltagsrealität, ist rasch vergessen. Derzeit ist die Realität verzerrt, passt in kein Drehbuch. Ich müsste mich daran nicht halten. Ich werd sie nicht vergessen. Nicht so schnell. Jedes Mal, wenn ich eine Katze sehe, werde ich an sie denken, sie und ihren Kater. Ich hoffe, ihr seht euch auf der Regenbogenbrücke wieder.

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Der unbeliebte Job

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Abflug von LOWW

Ich arbeite als Flugmeteorologe, bin also für Wetter und Warnungen an den Flugplätzen und im Luftraum zuständig. Als ich 2003 zu studieren anfing, hätte ich mir nie träumen lassen, einmal im 90m hohen Flugsicherungstower zu sitzen mit Rundumsicht. Zwei Semester Flugmeteorologie hatte ich gehabt, war sehr spannend, aber damals für meine Selbsteinschätzung über meinem Niveau. Von meinem Autismus wusste ich da noch lange nichts. Nach mehreren Jahren bei privaten Wetterdiensten beendete ich im Sommer 2017 die Ausbildung zum Flugmeteorologen. Ein riesiger Sprung, nicht nur finanziell, sondern auch fürs Selbstwertgefühl. Meine Stärken konnte ich endlich dort einbringen, wo sie gewertschätzt und gebraucht wurden. Der Wechsel von Salzburg nach Wien war nochmal ein Sprung nach oben in der Verantwortung, aber alternativlos. Entweder in Salzburg bleiben mit dem Freundeskreis in Wien, mangelnde Mobilität, Massentourismus (jetzt nicht mehr), oder nach Wien zurück, aber dann war klar, dass ich 800 Flugbewegungen am Tag hatte, Dreiviertel mehr als am stärkstfrequentiersten Chartersamstag in der Wintersaison in Salzburg. Es war klar, es ging um etwas, aber die Arbeit im Team machte mir trotzdem Spaß. Die Aussicht von 90m Höhe im Tower ist nicht zu überbieten, die Dämmerungsfarben am Abend und in der Früh unübertrofffen. Continue reading

Im Vakuum: Positiv sein versuchen

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In Österreich sind die Ausgangsbeschränkungen gefallen, die Maskenpflicht und Abstandsregeln geblieben. In Wien heißt das, die Öffis sind wieder voll, Abstand halten schwierig. Für jedes Geschäft gibt es eigene Regeln. Bei manchen muss man vorher anrufen oder einzeln eintreten. Alle wollen, dass man kontaktlos zahlt. Ab Mitte Mai sollen Essenslokale wieder aufsperren. Mit spontanem Essen gehen, gemütlichen Sitzen oder die Ex-Kollegen zur Plauderrunde treffen ist es aber dauerhaft vorbei. Es wird Zeitslots geben, man muss reservieren – telefonisch oder per Mail – maximal vier Personen am Tisch. Und Maske tragen am Weg zur Toilette. Schankbetrieb bleibt auch ausgesetzt, also nur Flaschengetränke. Da kann ich auch daheim bleiben. Wahrscheinlich schaut jeder die anderen Gäste finster an und verzieht das Gesicht, sobald jemand hustet oder laut lacht. Ich vermisse mein Halloumi-Frühstück am Yppenplatz. Dort saß ich gerne eine Stunde, hörte den türkischen Chef fließend zwischen türkisch und deutsch wechseln, abwechselnd charmant zu den Gästen und grob-halbernst zu seinem Personal. Ich hab mir immer eine Zeitung vorher gekauft. Ohne dabei etwas zu lesen kann ich nicht frühstücken. Inzwischen frühstücke ich regelmäßig daheim, aber ohne Halloumi-Spiegelei und den Avocadoaufstrich vermisse ich genauso. Die Standardreaktion ist jetzt vermutlich: Den kannst Du Dir auch selbst machen, ja, aber ich krieg ihn nie so exakt hin wie dort auf der Speisekarte, die richtige Mischung an Zutaten macht es. Davon abgesehen ist es mir zu aufwendig.

Im Februar wollte ich einiges ändern. Das letzte Jahr war nervenaufreibend, dann kam die Kur, mental wie körperlich hilfreich. Ich nahm mir vor, aktiv nach einer Freizeitpartnerin zu suchen. Ich hatte sogar kurz überlegt zu tindern. Der Lockdown war schneller. Durch eine gute Freundin wurde zudem die Lust darauf geweckt, ins Kabarett zu gehen und auf kleine Konzerte. Eine Abwechslung zum daheim herumsitzen. Es soll nicht sein. Ich hatte schon einen langen Blogtext vorbereitet, aber es bringt mich jetzt nicht weiter, über verpasste Gelegenheiten und unerfüllbare Träume zu katastrophieren. Hier möchte ich über das schreiben, was ich habe. Continue reading