Nicht wahrnehmbarer Autismus? Really?

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Ich weiß noch immer nicht, ob ich das als Kompliment oder Herausforderung verstehen soll, wenn mir gesagt wird: “Wenn Du vorher nichts gesagt hättest, dann hätte ich nie bemerkt, dass Du Autist bist.” Dieses Mal parierte ich sofort und nachvollziehbar: Im Job sei ich in meinem Element. Solange es um fachliche Dinge gehe, sei mein Autismus nahezu unsichtbar [jedenfalls die beeinträchtigenden Aspekte davon, auch Stärken kann man mit Autismus in Verbindung bringen], erschöpfend sei vielmehr der Alltag, aber das bekommen die Kollegen nicht mit.

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Zettelwirtschaftsminister

romnai

Seit der Kindheit hantiere ich mit Zetteln umanaund.  Überall musste ich etwas notieren, in den Anfängen meines Wetterhobbys die Wolken, den Regen, irgendwelche Messwerte oder besondere Ereignisse. Ich schrieb meine Beobachtungen zunächst in Stichpunkten und unsortiert in Blöcke und Hefte, und fertigte dann eine zweite Version in Schönschrift an. Auch in der Schule und während den Vorlesungen existierten immer zwei Abschriften. Das hatte den Vorteil, dass beim zweiten Abschreiben das Aufgeschriebene nochmal wiederholt werden könnte und ggf. Unklarheiten beseitigt werden konnten.

Heute verwende ich meine Zettel für Einkaufslisten, für Packlisten, für Dinge, die ich in naher und mittelfristiger Zukunft einkaufen möchte und für meine To-Do-Liste zum Abarbeiten. Diese wird ständig erneuert. Manchmal wird sie etwas umfangreicher, weil ich nicht dazu gekommen bin, nur selten ist sie ziemlich kurz, wenn das Wichtigste erledigt ist. Doch es stehen auch “unwichtige” Punkte darauf, also Dinge/Pläne, die mir gut tun, wo ich mir etwas gönnen kann.

Am Beginn kann die Zettelwirtschaft bedrohlich umfangreiche Auswüchse ausfassen, wenn ich das Wesentliche noch nicht erkannt habe. Im Laufe der Zeit, wenn das Geschriebene ins Langzeitgedächtnis transferiert wird, bin ich immer weniger darauf angewiesen. Es bleibt dennoch eine Absicherung, im Zweifelsfall etwas zum Nachschauen parat zu haben. Umso ärgerlicher natürlich, wenn ich die Mitnahme des Einkaufszettels vergesse. Ich versuche zumindest gelegentlich daran zu denken, ihn mit dem Handy abzufotografieren, denn das Handy vergesse ich sehr selten.

Die Zettel haben aber noch einen weiteren Vorteil: Ich bin ein sehr visuell denkender Mensch, habe zumindest in Ansätzen ein eidetisches Gedächtnis, sehe also den betreffenden Zettel bildlich vor mir und kann davon ablesen, wie wenn er tatsächlich vor mir liegen würde. Ähnlich funktioniert es mit Wanderkarten, die ich im Kopf rauf und runterscrollen kann, ohne sie physisch vor mir haben zu müssen. Wenn ich sage, dass ich in Bildern denke, kann man das durchaus wörtlich verstehe, ich denke in allem, was ich fotografiert bzw. auf einem Blatt Papier vermerkt habe.

Frustration und Feinmotorik

Als Kind habe ich lange und gerne musiziert. Insgesamt hatte ich nach den zwei Jahren obligatorischen Blockflöte noch elf Jahre Gitarrenunterricht angeschlossen. Das größte Problem war jedoch immer neue Saiten aufziehen. Die glitschigen Nylonseiten durch die kleinen Ösen ziehen und am Griffbrett dann verknoten. Leider bekomme ich bei so feinmotorischen Arbeiten immer schwitzige Hände, später beim Spielen wurden daraus regelrechte Schweißausbrüche, sodass ich währenddessen sogar abrutschte. Auch die Nervosität (Lampenfieber) wurde mit den Jahren immer stärker, nicht schwächer. Ich habe das Spielen dann aufgegeben, weil ich dem (vermeintlichen) Druck der mich alle anschauenden Zuhörer nicht mehr standhalten konnte. Ich bekam dabei total nasse Hände.

Auch heute ist es noch so, dass ich bei jeglichen Arbeiten mit Faden und Ösen, oder auch Schnüren sofort zu schwitzen anfange und dann abrutsche.Als wäre das nicht nervig genug, setzt mein Gehirn anscheinend aus, sobald ein Faden mehr als einmal gedreht werden muss, um einen Knoten zu binden. Aus diesem Grund liegen die Grödeln (leichte Steigeisen) seit zwei Jahren unbenutzt im Kasten. Selbst wenn ich sie mitnähme, könnte ich sie nicht anlegen, weil ich die Bedienungsanleitung nicht verstehe. Die Bänder müssen in einer bestimmten Reihenfolge um den Schuh geschwungen werden, damit sie fest anliegen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Klettersteigset. Ich brauche immer einen zweiten, der mir sowas anlegt, sonst wäre es lebensgefährlich für mich.

So, und jetzt habe ich mir den langjährigen Wunsch einer Spiegelreflexkamera erfüllt und scheitere beim Anlegen des Riemens, weil ich die Abbildung im Benutzerhandbuch nicht verstehe:

riemenscheissdreck

Warum muss sowas in ein Bild gepackt werden, warum kann man nicht vier Bilder daraus machen, wenn das Handbuch eh schon über 100 Seiten hat?

Ich brauche solche Anweisungen sehr klein zerstückelt in die einzelnen Schritte, um sie zu verstehen. Ähnlich auch beim Aufbau von Möbeln, wenn mehrere Teilschritte zusammengefasst wurden. Darum ziehe ich die bösen IKEA-Steuersünder anderen Möbelanbietern vor, deren Anleitungen viel zu klein und zu knapp gefasst sind.

Das ist sehr frustrierend und die Versuche von Bekannten, mir die Vorgehensweise zu erläutern, hat bisher nicht gefruchtet, weil ich nicht weiß, wo Anfang und Ende ist, wie rum ich die Kamera bzw. den Riemen halten muss, dass es nicht falsch eingefädelt wird. Und natürlich fange ich wieder extrem zu schwitzen an, sobald ich es versuche.

Keine Ahnung, welche pathologische ICD-Nummer das trägt, aber es begleitet mich seit der Kindheit und hat schon oft zu Unverständnis geführt, wenn ich nicht daraufkam, einfach etwas umzudrehen, und schon wäre es richtig gewesen, so wie ich mich im Kunstunterricht schon blamiert habe, weil ich die Kohlezeichnung nur um 180° hätte drehen müssen und sicher 10 min daraufgestarrt und überlegt habe. Der Kommentar des Kunstlehrers: “Sowas hab ich ja noch nie gesehen!”

[Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, aber der Nachteil eines fotografischen Gedächtnisses ist auch, dass ich mich an dutzende peinliche Situationen der letzten 25 Jahre erinnern kann, als wäre es gestern gewesen. Sowas möchte man doch lieber vergessen.]