ORF-Bericht mit der Krankheit Autismus

Heute wurde mir ein ORF-Artikel über Autismus (abgerufen am 13.02., 20.33) zugetragen, über die Eröffnung des ersten Autismus-Zentrums in Österreich, genauer gesagt in St. Pölten. Vorher stand dort das Ambulatorium Sonnenschein. Davon hörte ich schon vor vier Jahren im Rahmen einer Radio Ö1-Sendung über Autismus (ich berichtete), wo ich mit gemischten Gefühle zurückblickte.

Das neue Autismuszentrum gleich gegenüber bietet jetzt Platz für Kinder mit besonders schweren Erkrankungsformen.

Auch wenn es schwere Ausprägungen der autistischen Grundsymptomatik bzw. schwere Begleiterkrankungen gibt, ist und bleibt Autismus keine Erkrankung.

Lautes Gedränge auf dem Bahnhof, unbekannte Situationen, einkaufen in einem neuen Supermarkt – was für viele Kinder ein Abenteuer ist, wird für autistische Kinder schnell zur Belastungsprobe. Denn Reize zu filtern fällt ihnen schwer, erklärt Sonja Gobara, die ärztliche Leiterin des neuen Autismuszentrums in St. Pölten.

Ja. Doch nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.

[…]

Autistische Kinder fordern ihre Eltern nicht nur in der Erziehung, sondern oft auch finanziell. Viele Therapien sind teuer. Die Kinder im Autismuszentrum bekommen hochfrequente Behandlungen. Ihre Eltern kommen mit ihnen zwei- bis dreimal pro Woche über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren. Im Autismuszentrum Sonnenschein werden alle anfallenden Kosten von der Sozialversicherung und vom Land übernommen.

Das Attribut hochfrequent deutet auf intensive Verhaltenstherapieformen hin, welche die Österreichische Krankenkasse bisher nicht übernommen hat. Ich meine auch, dass ich vom Ambulatorium Sonnenschein von 20 Stunden Therapie pro Woche gelesen habe. In meinen Augen – als Autist, nicht als Fachkraft – ist das bereits zu viel für kleine Kinder. Davon abgesehen klingt der erste Satz so, als seien Autisten nur eine Belastung für die Eltern, Erziehung und ihren Geldbeutel, was mitnichten der Fall ist.

Landeshauptfrau Mikl-Leitner (ÖVP) sprach bei der Eröffnung von einer „Selbstverständlichkeit“, denn „wenn man als Familie eine so große Herausforderung zu stemmen hat, dann muss die Behandlung gratis sein“.

Danke. Gegenüber Flüchtlingen, die Kriegstraumata, Folter, Verfolgung bewältigen müssen, während sie gleichzeitig fließend deutsch lernen und am besten hochqualifiziert sein sollen, war Mikl-Leitner als damalige Innenministerin nicht so generös.

[…]

Denn bis Autismus bei Kindern diagnostiziert wird, haben betroffene Kinder und deren Eltern oft einen schwierigen und langen Weg hinter sich. Nicht selten sind Schulprobleme der Grund für eine Zuweisung. Zu diesem Zeitpunkt sind aber bereits sechs Entwicklungsjahre verlorengegangen, so der auf Autismus spezialisierte Kinder- und Jugendpsychiater Christian Popow. Autisten, die in ihrer Kindheit keine Therapien bekommen hätten, würden „fast zu hundert Prozent nicht arbeiten können“, so Popow.

Also ich hab in der Kindheit auch keine Therapie bekommen. Jetzt arbeite ich seit 10 Jahren Vollzeit im Schichtdienst. Ich kenne eine Menge anderer Autisten, die genauso arbeiten, spätdiagnostizierte Autisten sind ebenso viele darunter. Halte ich also für eine gewagte Aussage, aber das liegt an der mangelnden Differenzierung. Hier wird nämlich kein einziges Mal erwähnt, dass es sich bei Autismus um ein Spektrum handelt, mit einer großen Bandbreite individueller Ausprägungen.

Dennoch sei die Krankheit „kein Schicksal“. Man könne einem großen Teil autistischer Kinder helfen, „und man kann versuchen, ihnen die Funktionen, die aufgrund einer Vernetzungsstörung im Gehirn entstanden ist, in den Griff zu bekommen“. Vorausgesetzt, die genetisch bedingte Erkrankung des Nervensystems wird möglichst früh diagnostiziert.

Ein Absatz, der weh tut und diametral zur Aussage des Kurpsychologen steht, die ich hier gerne noch einmal zitiere:

“Betrachten Sie Ihren Autismus bitte niemals als Störung. Es ist eine Charakterausprägung, eine Art Persönlichkeit! Sie haben ihre Schwachstellen, aber andere Menschen haben andere Schwachstellen. Dafür haben Sie auch Stärken, die andere nicht haben.”

Autismus ist weder eine Krankheit, Vernetzungsstörung noch Erkrankung. Solche Aussagen verletzen meine Gefühle. Autismus ist eine andere Art des Seins, mit Stärken und Schwächen. Viele moderne Autismus-Experten sind auch der Ansicht, nur kommen die in den österreichischen Medien leider kaum zu Wort.

Laut Gobara liege ein optimaler Behandlungsbeginn im Alter von etwa 18 Monaten vor. „Aus Erfahrung wissen wir, dass Eltern sehr früh ahnen, dass ihr Kind eine Form von Autismus haben könnte, meistens schon nach dem ersten Lebensjahr.“ Woran es dann aber oft mangelt, sind die entsprechenden Diagnosen.

Wie gesagt, Autismus ist ein Spektrum, und nachdem es sich um keine Krankheit handelt, besteht auch kein Behandlungs-, sondern höchstens ein Unterstützungsbedarf, um im Alltag besser klarzukommen. Dabei sollte aber die andere Wahrnehmung des Kindes berücksichtigt werden.

In Summe wieder mal ein Artikel, der vor allem Schwächen, Krankheit und finanzielle Belastung in den Vordergrund stellt. Journalistische Qualität zum Abgewöhnen. Beweise mir, dass Du auch anders kannst, Österreich!

Advertisement

Petition: Klinisch-psychologische Behandlung muss von der gesetzlichen Krankenkasse gezahlt werden

EFx-nooW4AEmejE
Flyer: Berufsverband Österreichischer Psychologinnen: Für die Aufnahme klinisch-psychologischer Behandlung ins Allgemeine Sozialversicherungsgesetz: Link zur Petition 

In Österreich wird die klinisch-psychologische Diagnostik von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen, nicht aber die schriftliche Befundausstellung (macht 50% der Kosten aus) und auch keine nachfolgende Behandlung durch klinische Psychologen. Die Kasse begründet das damit, dass Autismus nicht heilbar ist und demzufolge auch kein Behandlungsbedarf besteht.

Die Kasse hat nur in einem Punkt Recht: Autismus kann ursächlich nicht geheilt werden. Es besteht aber sehr wohl Unterstützungs- und Behandlungsbedarf, nämlich bei Begleiterkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und traumatische Belastungsstörungen, unter denen die überwältigende Mehrheit der Betroffenen leidet.  Häufig bedeutet die Diagnose auch eine mitunter einschneidende Umstellung des bisherigen Lebensstil. Handlungen werden hinterfragt, der aktuelle Job, der Umgang mit der Diagnose im Freundeskreis (sofern vorhanden) und in der Familie. Freizeitgestaltung. Gerade in der Situation nach einer frischen Diagnose ist psychologische Unterstützung hilfreich. Zudem war gerade bei spätdiagnostizierten Autisten im Erwachsenenalter Autismus häufig nicht der erste Verdacht, sondern Depressionen oder Borderline. Die Begleiterkrankung Depression oder Angststörung verschwindet nicht durch die Autismus-Diagnose, sondern besteht weiter. Continue reading

Radio Ö1: Rückschritt in der Autismus-Aufklärung

fgdfgfgfggf
Ursachen, Überschneidungen und Kernsymptome von Autismus

Die Aufklärung über das Autismus-Spektrum ist in Österreich nicht weit gediegen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat noch nie den Namen (und zugleich Diagnose) Asperger gehört. Hans Asperger war Österreicher, seine Verdienste während der Zeit des Nationalsozialismus im Namen der Wissenschaft und für die Autisten sind nicht unumstritten, wie neuere Recherchen und Bücher belegen. Nichtsdestotrotz hat seine Entdeckung verschiedener Formen von Autismus (“Asperger-Autismus”) dazu geführt, dass man heute vom Autismus-Spektrum spricht. Unter diesem Oberbegriff werden heute alle Autismus-Formen zusammengefasst (vorher sprach von frühkindlichem Autismus, Asperger-Autismus und atypischen Autismus).

Das Spektrum lässt sich unterschiedlich interpretieren: Unter Autisten bekannt ist die Aussage “Kennst Du einen Autisten, kennst Du genau diesen Autisten.” Das heißt: Autismus kann individuell sehr verschieden ausgeprägt sein. Die Grundsymptome sind zwar bei allen vorhanden, die Schwerpunkte aber unterschiedlich ausgeprägt. Manche Begleitsymptome sind bei dem einen gar nicht vorhanden, beim anderen sehr stark. Spektrum bedeutet aber auch, dass die Autismus-Symptome von der Tagesverfassung abhängen, von Stress, von Umweltfaktoren, ob man von Gleichgesinnten oder neurotypischen Menschen umgeben ist und vieles mehr. Ein Autist kann heute in der Lage sein, extrovertiert zu kommunizieren und am nächsten Tag nicht imstande sein, die Wohnung zu verlassen.

Beim Radiosender Ö1 gab es am 03.05.2019 in der Rubrik “Wissen” einen Kurzbeitrag über die Ursachen von Autismus:

Ein weithin unbekanntes Terrain ist auch die Krankheit Autismus. In Österreich sind Schätzungen zufolge knapp 90 000 Menschen von Autismus betroffen, exakte offizielle Zahlen gibt es nicht. Wobei Experten und Expertinnen sprechen nicht von “einer” Krankheit, sondern von der Autismus-Spektrum-Störung, ähnliche Symptome mit vielen verschiedenen Ursachen, die u.a. am Institut für Science and Technology (IST) erforscht werden.

Continue reading

Wenn Autismus heilbar wäre, was bliebe dann …?

4
Autistische Wahrnehmung

Grundsätzlich halte ich die pauschale Aussage in beide Richtungen verkehrt, d.h. “Kein Autist möchte geheilt werden.” ebenso wie “Jeder Autist möchte geheilt werden.” Das liegt vor allem daran, dass es sich um ein Autismus-Spektrum handelt und es sehr individuelle Lebenswege gibt, mit dem eigenen Autismus umzugehen. Manche empfinden es täglich als schwere Behinderung und sehen selbst dann keine normale Lebensqualität, wenn gesellschaftliche Barrieren abgebaut würden, etwa bei extremer Reizempfindlichkeit gegenüber natürlichen Einflüssen (grelle Sonne, Gerüche, vom Wind verursachte Geräusche, Nahrungsaufnahme, usw.) oder bei Begleiterkrankungen, die körperlich oder seelisch einschränken. Andere zeigen eine höhere Funktionalität, sie können besser kompensieren, führen nach außen hin ein unscheinbares Leben, auch wenn dem ein jahrelanger K(r)ampf vorausgegangen sein mag und die Alltagsbewältigung weit mehr Herausforderungen verlangt als für Außenstehende sichtbar ist. Nachdem es auch “high functioning autism” gibt, kann man beide Sichtweisen nicht einfach in “Kanner” = Krankheit und “Asperger” = Behinderung teilen. Man kann nicht sagen, dass frühkindliche Autisten (Definition nach dem noch gültigen ICD-10) per se geheilt werden wollen und dass Asperger-Autisten ihren Autismus nie als Last empfinden. Continue reading