Autismus und Schmerzempfinden

fussmrt

Vor über 10 Jahren hatte ich meine erste Nierenkolik. Die wurde durch Bewegung besser, ich musste drei Mal in die Notfallambulanz gehen, bis sie mich dort behielten. Trotz Kolik konnte ich noch aufrecht gehen bzw. stehen, was der diensthabende Pfleger für nicht normal hielt und die Dringlichkeit daher nicht ernstnahm. Als man schließlich ein CT mit Kontrastmittel machte, sah man, dass die Niere kaum noch ausschied und ich sofort operiert werden musste.

Derzeit bin ich wegen meines Knochenmarködems in physikalischer Behandlung durch Stoßwellentherapie. Das Gerät sendet punktförmige Stoßwellen auf, die auf den betroffenen Knochen auftreffen und die Heilung anregen sollen. Bei der höchsten Intensität ist das normalerweise schmerzhaft, der Arzt fragt darum während der maximal fünfzehnminütigen Behandlung, auf welcher Schmerzskala von 1-10 es gerade wehtut. Bei meinen bisher zwei Behandlungen konnte er immer bis zur maximal nötigen Intensität gehen, ohne dass ich dem empfundenen Schmerz einen bestimmten Wert hätte zuordnen können. Ich blieb meist bei einer fünf oder maximal sieben, hätte aber genauso sechs oder vier sagen können. Der Arzt zeigte sich beeindruckt und meinte nur “Tapfer!” Andere Patienten würden bei der Stärke schon längst abbrechen.

Vergangenen Montag hab ich mir eine große Tasse heißen Tee über den nackten Oberschenkel geleert. Grobmotorik my ass. Es tat höllisch weh und ich hab ein paar Schreie fahren lassen. Leider wusste ich überhaupt nicht, was ich tun sollte. Ich hab mich noch nie so stark verbrannt. Ich hielt das Bein unter fließendes kaltes Wasser, aber nicht lange genug, wie sich herausstellte. Danach versuchte ich mit nassen Handtüchern zu kühlen, aber es brannte unerträglich nach. Mein Hausarzt machte erst am Nachmittag auf. Außerdem hatte ich keinerlei Verbandszeug mehr daheim. Meine ErsteHilfe-Sets fürs Wandern hatte ich alle schon bei früheren Anlässen geplündert. Ich schleppte mich zur Apotheke ums Eck, zeigte sogar die Verbrühung (dazu musste ich die Hose runterlassen, zum Glück war sonst kein Kunde im Geschäft). Sie gab mir große Pflaster und WALA Brandgel. Beim Heimgehen las ich, dass es sich um ein homöopathisches Arzneimittel handelt, bzw. ein anthroposophisches Mittel – also medizinischer Humbug. Eine gute Bekannte brachte mir dann aus einer anderen Apotheke Flammazin und richtiges Verbandszeug mit. Das hab ich in der Aufregung dann noch falsch angelegt (nämlich ohne die Wundauflage zwischen Salbe und selbsthaftende Binde). So ging ich zum Hausarzt, der hat sich das angesehen und meinte, es sei nicht schlimm. Flammazin unnötig, verbinden ja, wenn es an der Hose kratzt.

Es war aber nicht harmlos. Es entstanden Brandblasen, die Haut ging in Fetzen ab. Die Apothekerin wies auf die Gefahr von Elektrolytverlust hin, wenn mir schwindlig werde, soll ich nochmal hin und mit Nachdruck sagen, dass er das behandeln soll. Mir war tatsächlich beim (lauwarm) Duschen kurz schwindlig geworden, aber da war es schon Abend. Am nächsten Tag war ich wegen meiner ewigen Darmgeschichte beim Internisten, auf dem Weg dorthin rutschte der Verband das Bein hinab und es brannte wieder auf der Haut. Die aufmerksame Sprechstundenhilfe war beim Anblick der Verbrühung schockiert, weil es so großflächig sei. Wie der Hausarzt auf die Idee käme, dass man nichts tun muss. Sie urgierte, dass ich schleunigst zu einem Arzt gehe.

Dieselbe gute Bekannte nannte mir einen anderen Hausarzt, der länger offen hatte. Die dortige Sprechstundenhilfe hat sofort nach der letzten Tetanusimpfung gefragt! Der Arzt meinte, ich hätte Glück im Unglück gehabt, es sei an der Grenze zum II. Grad und würde alles wieder innerhalb von zwei Wochen verheilen. Heute hat es die Chirurgin gesehen und meinen Krankenstand um einige Tage verlängert, aufgrund des Ausmaßes der Verbrühung. Geimpft wurde ich heute auch. Über den anderen Hausarzt haben alle nur den Kopf geschüttelt. Ich selbst hätte weder an Elektrolytverlust, Impfung, Infektionsgefahr gedacht. Ich hab es nicht richtig ernstgenommen und zu lange gezögert. Richtig wäre gewesen, die Rettung zu rufen oder den 24h-Schmerzen-Dienst, ein Service der Stadt Wien, wo ausgebildete Schwestern bzw. Pflegerinnen Auskunft geben können, ob man ein Notfall ist oder ob Arzt oder Apotheke ausreichen. Die Ärzte haben sich jedenfalls gewundert, dass ich das überhaupt vom Schmerz her ausgehalten habe, dass ich NICHT die Rettung rief.

Daher mein Appell an (Not-)Ärzte, Notfallsanitäter und jene diensthabenden Ärzte oder Pfleger, die den Erstkontakt mit dem Patienten haben – Autisten haben eine andere Wahrnehmung, dazu zählt neben Überempfindlichkeit (insbesondere Geräusche, Gerüche, Tastsinn, visuelle Reize) auch Unterempfindlichkeit, z.b. durch

  • Sehr enges Festhalten / starkes Festklammern an Personen – anders kann der Druck auf den Körper nicht gespürt werden.
  • Hohe Schmerztoleranz.
  • Möglicherweise Selbstverletzungen.
  • Entspannung und Wohlbefinden durch schwere Gegenstände (zum Beispiel beschwerte Bettdecken) auf dem Körper.

Quelle: https://autismus-kultur.de/autismus/autipedia/wahrnehmung-autistischer-menschen.html

So besteht die Gefahr, schwere Verletzungen wie eben Brandwunden nicht als Notfall einzuordnen und zu spät oder gar nicht zum Arzt zu gehen. Äußerlich kann sich ein vermindertes Schmerzempfinden z.b. dadurch zeigen, dass der Autist im Winter kurzärmelig geht oder bei eisigen Frostgraden ohne Handschuhe, genauso, dass er heiße Gefäße ohne Schmerzreaktion anfassen kann. Autisten können beim Arzt außerdem nicht immer gut beschreiben, was wo wie wehtut.

Weitere Erfahrungsberichte:

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Vier-Ohren-Modell von Friedemann Schulz von Thun

“#Sprechstunde #Landarztpraxis Eine 22-jährige normal entwickelte junge Frau kommt mit Erkältung. In Begleitung ihrer Mutter. Mehr muss man über die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung nicht wissen.”

So tweetete kürzlich ein Arzt über ein Erlebnis in seiner Praxis. Daraufhin entwickelte sich ein heftiger Shitstorm, der von User @Motte als Paradebeispiel für fehlerhafte Kommunikation gesehen wurde:

Ganz im Sinne von audiatur et altera pars (auch der Andere möge gehört werden) habe ich seine Tweet-Kette hier abgeschrieben:

“Eine Sach-Botschaft wird auf Beziehungs-, Appell- und Selbstkundgebungsohr gehört.”

Immer mehr junge körperlich und geistig gesunde Menschen gehen, durch Unselbständigkeit und völlig fehlendem Körpergefühl begründet, mit kleinsten Wehwehchen zum Arzt und müssen durch Vertrauenspersonen begleitet werden. Was durchaus im weiteren Verlauf auf eine Angst- oder Panikstörung hinweisen kann, diese aber auch in wachsender Inzidenz und Prävalenz einiges über unsere Gesellschaft und die Befähigung junger Menschen zur Autonomie aussagt. Was ankommt, ist eine Herabwürdigung der Patientin und ein lustig machen über psychiatrische Erkrankungen. Mit keinem Wort wird die imaginäre Patientin ins lächerliche gezogen. Einzig und alleine ein Phänomen wird beschrieben und an eine Kritik unserer Gesellschaft gebunden.

[…]

Manche Kommentatoren machen aus “normal entwickelt” einen Bezug auf das Aussehen und sagen als Arzt dürfe man das nicht beurteilen. Sorry, natürlich gibt die körperliche und geistige Entwicklung des Patienten Rückschlüsse über zu erwartende Erkrankungen und Differentialdiagnosen. Und auch die Begleitung durch die Mutter bei objektiv minimalem Krankheitswert der Beschwerden gibt Hinweise auf möglich zugrunde liegende Probleme, wie zum Beispiel die häufig erwähnten Panikstörungen. Von einem guten Arzt erwarte ich, dass er sowas aufnimmt und für die Diafferentialdiagnostik sowie weitere Versorgung beachtet und bewertet. “Mit Fieber darf man kein Auto fahren!” Dem aufmerksamen Leser wird auch hier auffallen, von Fieber steht nix in dem Tweet. Eine Erkältung ist nicht unbedingt ein fieberhafter Infekt! Warum werden frei Symptome ergänzt, damit man sich aufregen kann?

[…]

“Jetzt darf ich nicht mal mehr meine Mama mit zum Arzt nehmen!”

Steht auch nicht in dem Tweet. Viele schreiben, dass sie aufgrund einer Panikstörung Begleitung zum Arzt brauchen. Das ist auch völlig ok und wichtig, dass es möglich ist.

Aber wie schon geschrieben, sagt die Zunahme von Panik- und Angststörungen etwas über unsere Zeit, die Gesellschaft sowie den kontinuierlichen Erfolgs- und Leistungsdruck aus, der viele, völlig nachvollziehbar, krank macht. Auch gibt es immer mehr Menschen, die durch traumatische Erlebnisse an psychischen Störungen erkranken. Aber das ist wieder ein Hinweis auf abnehmende Resilienz der Menschen und zeigt, dass hier irgendetwas grundlegend falsch läuft. Und das zu kritisieren und herauszustellen, zeugt nicht von fehlender Empathie, sondern Frustration mit dem System, an dem wir alle unser Päckchen zu tragen haben. Natürlich kann man das alles, herabwürdigen einer Patientin mit Angststörung, verkennen einer schweren Erkrankung, etc. in diesen Tweet implizieren, wenn man will. Aber dazu gehört der eigene Wille, hier etwas boshaftes zu lesen. […]

Ich gebe zu, ich hatte so wie viele Leser auch den Willen etwas Boshaftes darin zu lesen, auch wenn ich einige Reaktionen klar für überzogen halte: “So jemand hat hoffentlich keine Kinder.” – “Falschen Beruf erwischt!” – “Dem sollte die Approbiation entzogen werden!”

Wohlwollend betrachtet wollte der Arzt das System des wachsenden Leistungsdrucks kritisieren und sich nicht über den Umstand lustig machen, dass eine junge Frau für eine banale Erkältung Begleitung bis ins Sprechzimmer braucht. Das Attribut “normal entwickelt” gibt der Grundaussage allerdings einen unguten Unterton. Mein erster (impulsiver) Gedanke war: Woran macht er das fest, dass jemand normal entwickelt ist?

Meine erste Reaktion war:

“Ich wirke vermutlich auch ‘normal entwickelt’, vergesse aber leider oft wichtiges zu fragen und meine Mimik passt nicht immer zu den Schmerzen. Ich wäre froh, wenn öfter mal jemand dabei wäre.”

Woran ich nicht dachte, war: Er schrieb diesen Tweet nicht in situ, sondern nach dem Besuch, als für ihn deutlich war, dass es sich um eine banale Erkältung gehandelt hat. Man möchte dem Arzt schließlich nicht unterstellen, dass er unfähig sei, den geistigen und körperlichen Zustand einer Patientin zu erkennen.

Ungeachtet dessen, wie sich die Kritik entwickelt hat, wurde offenbar ein wunder Punkt getroffen, was der Umgang von Ärzten mit ihren Patienten betrifft. Wegen dem Gesundheitsystem, wie es sich heute präsentiert, dauert ein Termin gerade beim Hausarzt oft nur wenige Minuten. Es ist gerade für Menschen mit kommunikativen Schwierigkeiten eine Herausforderung bei der Mehrzahl der Ärzte , seine Bedürfnisse angemessen zu artikulieren. Gerade unter Stress. Da würde es manchmal helfen, wenn man zusätzlich zum Termin vor Ort noch wichtige Anliegen per E-Mail klären könnte. Stattdessen werden E-Mails, selbst wenn Kontakt via E-Mail angeboten wird, meistens ignoriert. Das führt dazu, dass viele Autisten häufig nicht die Hilfe erhalten, die sie brauchen – weil die Hürden der Kommunikation zu hoch sind. Der Gesundheit ist das langfristig abträglich, wenn Arztbesuche aus diesem Grund nicht möglich sind – oder nicht das Anliegen behandeln, weswegen man eigentlich dort war. Da würde eine Begleitung schon helfen, das artikulieren zu können, was einem wichtig ist.

Schade letzendlich, dass der besagte Arzt seine Kritik nicht näher ausgeführt hat. Twitter ist dazu auch nicht unbedingt geeignet aufgrund der Zeichenbeschränkung und der Unübersichtlichkeit von Tweet-Ketten.