Im Hinblick auf den Amoklauf in München am Freitagabend möchte ich gleich einmal ein paar Verallgemeinerungen aus dem Weg räumen:
- Mobbingopfer werden nicht automatisch zu Amokläufern.
- Wer gewaltverherrlichende (Computer/Video-)spiele spielt, wird nicht automatisch zu einem Massenmörder.
- Depressive Menschen werden nicht automatisch zu Amokläufern.
- ADHS oder Autismus sind nicht die Ursache für erhöhte Neigung zu Gewalt, sondern in vielen Fällen die Ursache, zum Mobbingopfer zu werden.
- Depressionen sind dann die Folge von Mobbing, aber auch Begleitumständen.
So… und jetzt schaut bitte ein wenig auf die Statistik, wie viele Menschen mit Depressionen, ADHS oder Autismus es gibt. Ja, die Zahl ist mehr als zweistellig. Die Amokläufer oder Todesflieger der vergangenen 10-15 Jahre kann man an einer Hand abzählen.
Warum werden Menschen gemobbt?
In den meisten Fällen, weil sie nicht mit dem Strom schwimmen, sondern irgendwie auffallen. Durch Äußerlichkeiten (Frisur, Gangart, Körpergröße, Gewicht, körperliche Behinderung) aber auch durch eine andere Wahrnehmung (wie ADHS oder Autismus) und damit verbunden zum Teil auch kommunikative Auffälligkeiten (naive Menschen lassen sich besonders leicht mobben). Nicht jedes gemobbte Kind ist Autist oder ADHSler, aber die meisten Autisten und ADHSler werden in irgendeiner Phase des (oft jungen) Lebens gemobbt. Posttraumatischer Stress, Angsterkrankungen wie soziale Phobien sind oft die Folge. Ein erhöhtes Suizidrisiko unbehandelt die Konsequenz.
In diesem übersetzten Blogtext werden weitere Gründe, gemobbt zu werden genannt:
- Autisten neigen eher dazu, in einer Gruppe aufzufallen.
- Autisten haben nicht immer einen so großen Freundeskreis, der sich für sie einsetzt.
- Viele tun sich schwer, die sozialen Signale der anderen zu erkennen und deren Absichten richtig zu deuten.
- Tendenz, Gesagtes wörtlich zu nehmen.
- Autisten zeigen meist die Reaktion, die mobbende Personen sich erhoffen.
- Autisten tun sich aufgrund der kommunikativen Schwierigkeiten oft schwer, Eltern oder Lehrer um Hilfe zu bitten.
Das muss nicht nur explizit bei Autismus so sein, sondern kann auch auf Nichtautisten zu treffen. Sobald jemand “aus der Reihe fällt”, wird er/sie zur Zielscheibe von Mobbing, sofern er/sie nicht genügend Selbstwertgefühl entwickelt hat, dass ihm/ihr die Hänseleien sonstwo vorbeigehen. Das kann manchmal äußerlich so wirken, aber innerlich brodelt es dann weiter. Das ist ja auch das Problem von Depressionen, dass sie nach außen hin oft nicht sichtbar sind, wenn man die subtilen Signale nicht erkennt. Im oberflächlichen Smalltalkkontakt lässt sich das meist noch überspielen.
Unabhängig davon, welche Faktoren noch eine Rolle für den jüngsten Amoklauf spielten, müssen wir dringend über die Verrohung der gesellschaftlichen Zustände reden. Denn Mobbing beginnt nicht nur bei dem Einzelnen, bei schlechter Erziehung der “Täter” (sowohl des Amokläufers als auch der mobbenden Personen), sondern wird von den gesellschaftlichen Faktoren vorgegeben – die wir alle kennen:
- Zweiklassengesellschaft
- sozialer Abstieg
- keine Vorbilder
- selbst von der Politik/Regierung Verstärkung von stigmatisierenden Bildern (Arbeitslose, Migranten, Flüchtlinge)
- verhetzende, übertriebene Berichterstattung, die Betroffene unter Generalverdacht stellt
- mangelnde Bereitschaft zur richtigen Umsetzung von Inklusion in den Schulen (sich querstellende Lehrer, bürokratische Hürden)
- auseinanderfallendes Gesundheitssystem
- Mangel an Psychologen (v.a. Kinder/Jugendpsychiatrie, aber auch Erwachsene)
- Krankheitsstempel für alle, die nicht einer sozialen Norm entsprechen (ICD-10 und DSM-V befeuern dies nur, siehe Allen Frances: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen)
- Perspektivlosigkeit bei den Berufsaussichten, das gerade psychisch kranke oder neurologisch andere Menschen besonders trifft.
- etc.
Wie zu Beginn geschrieben, Mobbingopfer werden durch diese Faktoren nicht automatisch zu Amokläufern. Aber es entsteht ein oft lebenslanger Leidensdruck, wenn nicht auf sie zugegangen wird. Mobbing sollten wir also nicht nur bekämpfen, um die 0,1 % Gefahr eines Amokläufers zu reduzieren, sondern um den Betroffenen langfristig eine Perspektive zu geben, dass sie nicht in das Gefühl der Ausweglosigkeit abrutschen.
Wir könnten jetzt Killerspiele verbieten, aber das ändert am Leidensdruck nichts. Verbote lassen sich zudem umgehen. Wir könnten die Waffengesetze verschärfen, aber detto. Das sind kurzfristige, medienwirksame Symptombehandlungen, die nichts daran ändern, dass bei gesellschaftlich einfach so hingenommenen und oft ignorierten Zuständen wie Depression und/oder Mobbing weggesehen wird – weil sich ja die fundamentale Betrachtungsweise “Nach mir die Sintflut” ändern müsste.
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