Steve Silberman: 4 Dringend zu beseitigende Mythen über Autismus

Der Journalist Steve Silberman hat sich durch seinen Artikel “The Geek Syndrome” über Autismus im Silicon Valley einen Namen gemacht, und ist spätestens seit einem Bestseller über Autismus (“Neurotribes”) auch in weiten Teilen der autistischen Communities ein Begriff. So kritisierte er u.a. auch die Arbeit von AutismSpeaks in einem heuer erschienenen Artikel.

In seinem Text über 4 Falschstellungen von Autismus, die dringend beseitigt gehören, spricht er folgende Mythen an (keine vollständige, aber sinngemäße Übersetzung):

Mythos #1: Autismus war einmal selten, heute ist es normal

1970 schätzte man die Häufigkeit von Autismus unter US-Schulkindern auf 1 in 10 000, heute sind es 1 in 68. Manche Eltern und Aktivisten sehen fälschlicherweise die Ursache in Impfstoffen, obwohl die Studie des Gastroenterologen Andrew Wakefield von 1998 inzwischen mangels Beweisen zurückgezogen wurde.

Tatsächlich ist der dramatische Anstieg diagnostizierter Autisten vor allem darauf zurückzuführen, dass diese Diagnose überhaupt möglich ist. Bis in die 80er gab es kein “Autismus-Spektrum” als Diagnosekategorie. Die Kriterien für eine Diagnose waren ziemlich eng gefasst und man dachte zudem, sie sei selten. Unter anderem Leo Kanner war für die sehr strikten Kriterien verantwortlich. Nur, wer sich eine mehrfache Diagnostik leisten konnte, bekam schließlich die Autismus-Diagnose. Mädchen mit Autismus waren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nahezu unsichtbar.

Die britische Psychiaterin Lorna Wing, selbst Mutter eines stark betroffenen autistischen Mädchens, führte in den späten 80ern das Konzept des “autistischen Kontinuums” (später Spektrum) ein, und kurz darauf die Bezeichnung “Asperger-Syndrom”. Sie machte zudem deutlich, dass es sich um eine lebenslange Entwicklungsstörung handelt, und keine seltene Psychose, die nur die frühe Kindheit betreffe, wie Kanner lange Zeit suggeriert hat.

Der Forschungsschwerpunkt (unterstützt u.a. durch Autism Speaks) richtet sich großteils darauf, potentielle Auslösefaktoren für Autismus zu finden, während die unmittelbaren Bedürfnisse autistischer Menschen und Angehörigen ignoriert werden.

Dabei könnte die englische National Autistic Society ein Vorbild sein, die den Löwenanteil ihrer Finanzen darauf verwendet, das Leben erwachsener Autisten und ihrer Angehörigen zu verbessern.

Mythos #2: Autisten mangelt es an Empathie

Früher wurden Autisten häufig als emotionslose Automaten, unfähig zu Mitgefühl, quasi als Soziopathen dargestellt. Eine der ersten Zeitungsberichte (1990) über das Asperger-Syndrom besagte “Es ist die Seuche derer, die nicht fühlen können” und benannte sie als “grausam” und “herzlos”.

In Wahrheit beschäftigen sich Autisten oft sehr mit den Gefühlen ihrer Mitmenschen, was sie manchmal beinahe lähmen kann. Ihre Probleme liegen darin, soziale Signale zu interpretieren – kaum merkliche Veränderungen im Gesichtsausdruck, Körpersprache und Tonfall – worauf sich”Neurotypische” beziehen, wenn sie sich einander ihren Gemütszustand mitteilen. Die Ansicht, dass es Autisten an Empathie mangele, wurde dazu benutzt, ihnen den Sündenbock zuzuweisen, wenn grausame Verbrechen (wie Massenmorde, Amokläufe) geschehen.

Autisten und Nichtautisten stehen Herausforderungen gegenüber, wenn es darum geht, sich in die Situation des anderen zu versetzen. Für Kinder im Spektrum kann der Gebrauch von “social stories” den Lernprozess beschleunigen, während Neurotypische ihre Fähigkeit verbessern könnten, zu verstehen, wie Autisten denken, indem sie einfach öfter mit ihnen zusammen sind, und zwar, wenn sie sich in Umgebungen aufhalten, wo die Sinnesüberlastung auf ein Minimum begrenzt ist.

Empathie ist keine Einbahnstraße.

Mythos #3: Das Ziel sollte sein, autistische Kinder ”ununterscheidbar von ihren Altersgenossen” zu machen.

In den 80ern erfand der US-Psychologe Ole Ivar Lovaas eine Behandlungsmethode für Autismus, die unter dem Namen Applied Behaviour Analysis (ABA) bekannt ist und bis heute am häufigsten als Frühinterventionsmethode eingesetzt wird. Es gibt einige Probleme mit Lovaas-ABA, davon abgesehen, dass es erheblich zeit- und kostenaufwändig ist, und für viele Familien ohne zusätzliche Hilfe kaum bewältigbar ist. Zudem übertrieb Lovaas den Erfolg der Normangleichung, “was nicht das widerspiegelt, was tatsächlich geschah und bestimmt nicht als wissenschaftliche Grundlage hergenommen werden kann” (Christine Lord, führende Autismusforscherin).

Zudem berichteten manche erwachsene Autisten von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen, die zu lebenslangen Angsterkrankungen beigetragen haben (z.B. Julia Bascom in  “Quiet Hands”:

“Als kleines Mädchen war ich autistisch. Und wenn Du autistisch bist, ist es kein Missbrauch, sondern Therapie”

 

Barry Prizant ermutigt Eltern und Ärzte in seinem kürzlich veröffentlichten Buch Uniquely Human: A Different Way of Looking at Autism dazu, autistisches Verhalten (wie Hände flattern und Echolalien) nicht als krankhaft zu betrachten, sondern als Anpassungsstrategien, um mit einer Welt fertig zu werden, die sich chaotisch, unvorhersagbar und überwältigend anfühlt.

Er kritisiert an der Normangleichung, dass …

“sie die Person als ein Problem behandelt, das gelöst werden muss, statt als ein Individuum, das verstanden werden muss.”

 

Diese Annäherungen machen alles oft noch schlimmer. Hilfreicher sei es, zu fragen, was diese Verhaltensweisen motiviert.

Indem sie fragen, warum sich ein Kind in einer bestimmten Weise verhält, lernen Eltern und Ärzte, die Quellen emotionaler Dysregulierung zu erkennen (z.B. ein kratzendes Kleidungsstück oder flackerndes, fluoreszierendes Licht) und sie so weit wie möglich zu beseitigen, was zu andauernder Verhaltensänderung führt und auch zu einem tiefgründigeren Verständnis der Talente und Herausforderungen des Kindes.

Mythos #4: Wir überdiagnosieren Sonderlinge mit einer Modediagnose.

Die subversivste Idee in Lorna Wing’s Spektrumskonzept ist, dass jede Eigenschaft, die als kennzeichnend für Autismus betrachtet wird, auch von nichtautistischen Menschen besetzt wird und zwar in verschiedenen Abstufungen. Autisten “stimmen” (selbststimulieren), Neurotypische zappeln. Autisten haben Spezialinteressen und Obsessionen, Neurotypische Hobbys und Leidenschaften. Autisten haben sensorische Empfindlichkeiten, Neurotypische können Polyester an ihrer Haut nicht ertragen.

Das heißt, es gibt eine breite Grauzone zwischen Autismus und Nichtautismus (eines von Wings Lieblingszitaten war Winston Churchills Sprichwort “Nature nevere draws a line but smudges it” – Die Natur zieht niemals eine Grenze, sondern verwischt sie).

Forscher nennen die Menschen innerhalb der Grauzone “broad autism phenotype” (BAP), aber meistens werden sie einfach als exzentrisch angesehen – der Kerl im Pub, der Dir jedes Detail einer Schlacht aus dem Zweiten Weltkrieg aufzählen, das Gothic-Mädchen, das ihre Katze liebt und weite Teile der Dialoge von Doctor Who wörtlich rezitieren kann.

Aus der Ferne berühmten Personen nachträglich die Diagnose zu geben, sind zum Hipster-Gesellschaftsspiel geworden. Das Problem ist: Wenn Milliardäre wie Mark Zuckerberg und Yahoo-Chefin Marissa Meyer Autisten sind, und einer der gefeiertesten Comedians in den USA im Spektrum ist, warum tun sich dann unverhältnismäßig viele Autisten schwer damit, über die Runden zu kommen? Warum sagen Familien, dass sie verzweifelt mehr Unterstützung brauchen, um ihren autistischen Kindern dabei zu helfen, einen Arbeitsplatz zu finden und unabhängig zu leben? Ist Autismus nicht eher ein “Anderssein” als eine Behinderung?

Doch Autismus ist eine Behinderung – es ist in der Tat eine schwerwiegende und tiefgreifende, die beinahe alle Aspekte des Lebens betrifft, wie jeder mit einer Diagnose (bzw. deren Angehörige) weiß.

Die Gesellschaft weiß, wie man auf Behinderungen Rücksicht nimmt. Was sind die kognitiven Äquivalente zu abgesenkten Bordsteinkanten und Rollstuhlrampen? Wir haben gerade erst damit begonnen, die Möglichkeiten zu erforschen, obwohl das digitale Zeitalter unsere Optionen massiv vergrößert hat, um, sagen wir, die Lehrpläne autismusspezifisch anzupassen, damit sie den Lernstilen individueller Schüler gerecht werden.

Es ist gar nicht lange her, als jemand, der sich seinem oder ihrer Freunde mithilfe einer Tastatur mitteilte, als schwer gehandicapt betrachtet wurde. Nun sind sie einfach Teenager.

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