Autismus als andere Wahrnehmung

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Autismus als Spektrum

Ich beziehe mich für meinen Definitions- und Erklärungsversuch vor allem auf folgende Bücher:

  • Ian Ford – A Field Guide to Earthlings. An Autistic/Asperger View of Neurotypical Behavior, 2010
  • Gee Vero – Autismus – (m)eine andere Wahrnehmung. , 2014
  • Temple Grandin and Richard Panek – The Autistic Brain, 2013
  • Ludger Tebartz Van Elst, Autismus und ADHS. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und Neuropsychiatrischer Krankheit, Kohlhammer, 2016

Ausgangslage ist die andere Wahrnehmung – sensorisch, motorisch und emotional. Diese beeinflusst, wie wir denken, wie wir fühlen und wie wir mit anderen Menschen kommunizieren. Etwa wörtliches Verstehen, weil wir nicht auf Mimik, Gestik und Tonmelodie achten, kein Smalltalk, weil wir “schnell zur Sache kommen” und die kognitive Empathieleistung, die uns viel länger und intensiver über unseren Gesprächspartner nachdenken lässt als das umgekehrt neurotypische Menschen tun. Continue reading

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Was ist Autismus?

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Quelle

Es bleibt definitiv keine leichte Aufgabe, Autismus korrekt zu definieren. Über die Rolle Hans Aspergers während der Zeit des Nationalsozialismus kann man differenzierter Meinung sein. Die Medien pickten sich vor allem die bösen Zitate aus dem vorliegenden Artikel und ignorierten die guten Seiten. Aber sind wir doch einmal ehrlich? Ohne Hans Asperger’s Artikel über den “autistischen Psychopathen” (damals hatte das eine andere Bedeutung als heute) hätte Lorna Wing ebendiesen nicht Jahrzehnte später aus den Akten gegraben. Ihr wäre nicht der Gedanke eines “Autismus-Spektrums” gekommen, welches jetzt – 30 Jahre später – Eingang in das medizinische Klassifizierungssystem (DSM, in Europa ICD) gefunden hat. Asperger als vorbelasteten Begriff aus der Medizingeschichte zu verbannen, hieße, einen wichtigen Verdienst an der Diagnose Autismus-Spektrum auszublenden.

“Eine Wissenschaft, die ihre Geschichte nicht kennt, versteht sich selber nicht.”

(Kurt Schneider, 1950)

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Tebartz van Elst’s andere Sicht auf Autismus (I)

Neu erschienen: Ludger Tebartz van Elst “Autismus und ADHS. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrische Krankheit” (2015, Kohlhammer-Verlag).

Als versierter Leser von Wissenschaftsliteratur ist mir das Fachchinesisch sehr leicht gefallen, aber ich fürchte, dass viele Laien an der reichlichen Häufung von Fachbegriffen scheitern werden. Das ist schade, denn van Elst präsentiert viele gute Denkansätze und schlägt eine neue Definition von Krankheit vor.

Ich hab die Zusammenfassung in drei Teile gegliedert.

Link zu Teil 2

Link zu Teil 3

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Erweiterung der Autismus-Definition

In meinen Augen steht uns in Zukunft eine weitere Verfeinerung und Erneuerung der Autismus-Definition bevor. Jahrzehntelang wurde Autismus ausschließlich über Verhaltensbeobachtung festgestellt, was zu den bekannten Kategorien Asperger, Kanner und atypischen Autismus geführt hat. Seit der letzten Aktualisierung des Handbuchs fürs psychiatrische Krankheitsbilder (DSM-V 2013) wurden Asperger und die anderen Subtypen zu Autismus-Spektrum-Störungen verschmolzen. Autisten, aber auch manche Mediziner, die Autismus aus der Stärkenperspektive betrachten, ziehen Autismus-Spektrum oder einfach Autismus vor (letzteres ist jedoch uneindeutig, weil die Gesellschaft mit Autismus meist Kanner-Autismus assoziiert). Anstelle der Subtypen stehen jetzt drei Ebenen an Unterstützungsbedarf im Diagnosekatalog, die auf die Ausprägung des autistischen Verhaltens abzielen.

Jedoch ist die Geschichte des Autismus definieren hier nicht zu Ende. Da die genetische Forschung stetig voranschreitet, wurden bereits genetische Risikofaktoren gefunden und es werden weitere gefunden werden. Daher sind künftige Autismus-Subtypen wahrscheinlich viel spezifischer als heutzutage.

Beispielsweise gibt es Fragiles-X-Syndrom, 47,XXY, 47,XYY oder 22q11 deletion syndrom (auch DiGeorge-Syndrom genannt).  Es gibt zahlreiche, weitere genetische oder chromosomale Varianten, die die Wahrscheinlichkeit von Autismus erhöhen. In allen Fällen ist weder ein zusätzliches X-Chromosom or ein bestimmtes Gen alleine der Risikofaktor, doch ist die Wahrscheinlichkeit gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht.

Ich denke, dass die Bestimmung spezifischer Genotypen durchaus Vorteile für Autisten mit sich bringt. Manche autistische Phänotypen zeichnen sich durch bestimmte Begleiterkrankungen wie Epilepsie oder Magen-Darm-Erkrankungen aus, bei 47,XXY sind es z.B. Stoffwechsel- und Herzkrankheiten oder Osteoporose. Gerade im Fall der Darmerkrankungen ist es durchaus vorstellbar, dass diese Begleiterkrankungen manchen Autisten so stark zu schaffen zu machen, dass sie nicht mehr in der Lage sind zu kompensieren. Indem man diese Stressfaktoren wegnimmt (z.B. Glutein/Kasein-Diät), ermöglicht man betroffenen Autisten, im Alltag besser zurechtzukommen. Hier stellt sich dann auch die Frage, ob Symptome wie selbstschädigendes Verhalten, Aggressionen, Meltdowns, Wutausbrüche als Teil der autistischen Kernsymptomik oder als Folge unerkannter Begleiterkrankungen zu sehen sind, speziell bei nonverbalen Autisten, die nicht direkt mitteilen können, was ihnen Schmerzen bereitet.

Ich könnte mir einen künftigen Diagnoseablauf so vorstellen:

Grundlage ist weiterhin die Verhaltensbeobachtung, um überhaupt den Verdacht Autismus zu hegen. In weiterer Folge ein genetisches Screening, das zu spezifischen Subtypen, abhängig von Gen- oder Chromosomenvarianten, führt. Aufgrunddessen, was über diesen Subtyp bekannt ist, sind die Mediziner mit möglichen medizinischen Komplikationen vertraut. Um beim Beispiel 47,XXY zu bleiben: Menschen mit Erstdiagnose Autismus sind sich der zugrundeliegenden körperlichen und hormonellen Veränderungen nicht bewusst, die das Risiko von Begleiterkrankungen fördern können, z.B. Diabetes oder Osteoporose. Umgekehrt drohen Menschen mit Erstdiagnose 47,XXY den Grund autistischen Verhaltens zu übersehen, da die Hormontherapie nur den körperlichen Teil dieser Diagnose behandelt. Zudem ist 47,XXY im Vergleich zu Autismus viel zu spezifisch und zu selten, als dass es für sie besondere Unterstützungsangebote im Alltag gibt.

Obwohl die überwiegende Mehrheit der Autismus-Diagnosen als idiopathisch angesehen wird (d.h. keine bekannte Ursache), bestehen bereits bestimmte Subtypen und können auf diese Weise angegangen werden. Spezifische Subtypen sind demzufolge ein mögliches Ziel der genetischen Autismusforschung, nicht um Autismus zu verhindern oder zu heilen, sondern um über Begleiterscheinungen frühzeitiger und besser Bescheid zu wissen. Aus diesem Grund kann ich genetische Forschung zu Autismus nicht pauschal ablehnen.

Ich verstehe die Ängste und Sorgen vieler Autisten sehr gut, die befürchten, dass man genetische Erkenntnisse dazu missbrauchen könnte, um autistische Kinder abtreiben zu können, wie das beim Down-Syndrom oder Klinefelter-Syndrom bereits vielfach der Fall ist. Jedoch zeigen selbst Mäusemodelle Ungereimheiten, etwa, dass sich herausstellt, dass “prominente Autismusrisikogene” nur begrenzte Auswirkung auf autistisches Verhalten haben.

Ich persönlich zweifle, dass Forscher während unserer Lebenszeit das gesamte Genom von Autismus entpuzzeln.  Die “multiple-hit-theory” (d.h. es gibt einen bestimmten Pool an Risikogenen, aber mehrere davon müssen kombiniert werden, um Autismus zu erhalten) sowie spontane Genmutationen (“de novo genes”), wo es sich um neues Genmaterial handelt, das von keinem Elternteil vererbt wurde, erschweren es den Wissenschaftlern, Autismus vor der Geburt eindeutig zu identifizieren, oder auch nur über eine Gentherapie nachzudenken.

In Summe zeigt die Genetikforschung, dass Autismus ein aufgeblähter Oberbegriff ist, der in Wahrheit für zahlreiche, genetisch verschiedene Veranlagungen steht. Das kann mit ein Grund sein, weshalb Therapien und Diäten unterschiedliche Wirksamkeit bei unterschiedlichen Autismusgruppen zeigen.

Ich möchte keine Therapie, die Autismus heilt, weil ich ein überzeugter Anhänger der stärkenorientierten Sichtweise zu Autismus bin, wie sie durch die “autism empowerment movements” vermittelt wird. Ich glaube, dass bei Autisten mit Darmbeschwerden die Darmbeschwerden behandelt werden sollten, nicht der Autismus. Ich glaube, dass die Behandlung der Darmbeschwerden nicht die Schlüsselkomponenten des autistischen Gehirns verändert, wie z.B. unterschiedliche Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung. Die Entfernung oder Umlenkung selbstschädigenden Verhaltens durch die Behandlung von Darmbeschwerden lindert den Autismus nicht. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu Verhaltenstherapiekonzepten, die die Wurzeln des Verhaltens ignorieren, wie z.B. ABA.

PS:

Selbst, wenn es hunderte verschiedene “Syndrome” gibt, die autistisches Verhalten auslösen, bedeutet das noch lange nicht, dass man hunderte verschiedene Therapiekonzepte braucht. Manchmal ist die Ursachenfrage auch rein akademischer Natur und Probleme, Stärken, Schwächen, Unterstützungsangebot, Nachteilsausgleiche, etc.. helfen einer größeren Gruppe von Autisten mit unterschiedlichen Veranlagungen. TEACCH wird z.B. bei idiopathischen Autisten angewandt, hilft aber genauso Autisten mit 47,XXY. Das gleiche trifft auch auf ADHS-Konzepte zu, die die Exekutivfunktionen verbessern sollen. Das kann genauso Menschen helfen, die gar keine Diagnose oder Verdacht haben, aber eben mit Exekutivfunktionen Schwierigkeiten im Alltagsleben haben. Verschiedene Genotypen sehe ich als sinnvoll an, für alle Genotypen individuelle Unterstützungsangebote zu erfinden ist dagegen unnötig.

PS 2, Nachtrag, 07.04.16 – Mein hier beschriebenes Konzept ist in einem aktuellen Artikel von Spectrum-News so erläutert, wie ich es mir vorgestellt hatte:

https://spectrumnews.org/features/deep-dive/genetics-first-a-fresh-take-on-autisms-diversity/