Auf Twitter bin ich kürzlich über diese Wortmeldung gestolpert:
Hier ist euer unregelmäßiger reminder, dass Hans Asperger ein nazi war und es den Subtyp “Asperger Autismus”nur deshalb gibt um zu unterscheiden, welche Autisten denn noch nützlich zu Arbeitszwecken sein könnten und welche man direkt ermorden kann. Bitte daher vermeiden.
@DerW0815, 06.10.22
Hintergrund: Die Bezeichnung Asperger-Syndrom geht auf den österreichischen Kinderarzt Hans Asperger zurück. Lange Zeit hielt sich der Mythos, dass Asperger während der Nazizeit die von ihm diagnostizierten Kinder vor dem Genozid retten wollte. Diese irreführende Darstellung wurde von Medizinhistoriker Herwig Czech in seinem am 19. April 2018 erschienenen Paper “Hans Asperger, National Socialism, and “race hygiene” in Nazi-era Vienna” entlarvt. Daraus geht klar hervor, dass Asperger nicht nur Mitläufer, sondern aktiver Unterstützer der Nationalsozialisten war und in seinen Augen minderwertige Kinder in die Euthanasie geschickt hat.
Der Begriff Asperger-Syndrom wurde 1991 durch Uta Frith populär, die Aspergers legendären ’44er Artikel übersetzte. Er ist insofern sinnvoll, als dass er zeigt, dass Individuen im Bereich des autistischen Spektrums gute sprachliche und intellektuelle Fähigkeiten aufweisen können. Viele Betroffene identifizieren sich nach wie vor mit Asperger, auch wenn seit dem DSM-V 2013 Asperger in die breitere Kategorie Autism Spectrum Disorder verschmolzen wurde. Autisten benutzen lieber den neutralen Begriff Autism Spectrum Condition, der sich allerdings schwer ins Deutsche übersetzen lässt.
Asperger sah Autismus als persönliche Eigenschaft mit allgemein guter Prognose, ganz im Gegensatz zum klassischen frühkindlichen Autismus durch Kanner. Aus seinem Artikel (1944) lassen sich ein paar exemplarische Zitate für Stärken und Schwächen der Betroffenen ziehen:
Einerseits beschrieb er eine “spezielle Scharfsicht”, “in günstigen Fällen…herausragende Leistungen”, und dass “die Arbeitsleistung exzellent sein kann, und damit soziale Integration einhergeht”, andererseits beschrieb er “Hilflosigkeit in Alltagspraktiken” und dass “ihre nähesten Angehörigen und Partner Mühe haben, mit ihnen klarzukommen”. Nach Czech (2018) liegt natürlich der Verdacht nahe, dass er mit “exzellenter Arbeitsleistung” auf den Leistungsgedanken in der Nazi-Ideologie anspielt.
Asperger wurde jahrzehntelang als Diagnose verdrängt. Autismus für sich gehört(e) nicht einmal zur Pflichtvorlesung im Psychologie-Studium. Viele Allgemein- und Fachärzte haben erschreckend wenige Kenntnisse darüber. Wenn überhaupt, denken sie an den “frühkindlichen” Autismus. Die Bevölkerung selbst kannte Asperger vielfach überhaupt nicht, oder dachte allenfalls an “Rain Man”. Die wenigen ehrenamtliche Organisationen und Vereine in Österreich sind fast ausschließlich an Kinder und Jugendliche mit Autismus adressiert, nicht an Asperger und vor allem nicht an Erwachsene. Viele Österreicher denken immer noch, dass Autismus nur männliche Personen betrifft und sie denken an nichtsprechende, schaukelnde Kinder, nicht an Erwachsene mit einer bunten Vielfalt an autistischen Ausprägungen und Berufswünschen, die mitten im Leben stehen, wie man so schön sagt, sogar Familien gründen, Freundschaften aufbauen.
Die Abschaffung des Begriffs Asperger-Syndroms würde übrigens nicht ausreichen. Auch das Rett-Syndrom ist nach einem Entdecker mit nationalsozialistischer Vergangenheit (Andreas Rett) benannt und noch heute in Verwendung. Und dies ist schon wesentlich länger bekannt als bei Hans Asperger. Auch mit dem Begriff Klinefelter-Syndrom bin ich nicht sehr glücklich, weil Harry F. Klinefelter 1942 lediglich anhand von 9 Buben charakteristische Merkmale feststellte, die, wir wir heute wissen, alle ein zusätzliches X-Chromosom aufweisen. Nicht alle Personen mit 47,XXY entwickeln jedoch das Klinefelter-Syndrom (Testosteronmangel) und nicht alle mit diesem Mangel wollen diesen therapiert haben (Intersexualität, Transgender). Es handelt sich um ein Spektrum wie bei Autismus auch. Trotzdem wird Klinefelter-Syndrom heute synonym mit 47,XXY verwendet, ohne das Spektrum dahinter zu hinterfragen.
In einem früheren Artikel habe ich erläutert, welche Probleme damit einhergehen, wenn man sich “Autist” nennt, aber nicht ernstgenommen wird. Über eine Definition von Autismus hab ich mir schon früher Gedanken gemacht.
Bis heute bleibt mein Fazit: Jeder Autist* lebt in seinem eigenen individuellen Umfeld, das über Autismus aufgeklärt ist oder auch nicht. Wer arbeitsfähig ist und auf Jobsuche ist, fährt mit *Asperger* möglicherweise besser als mit Autismus. Das mag in Teilen von Deutschland oder je nach Arbeitgeber anders sein, in Österreich verursacht es großteils Erklärungsnot, Rechtfertigungen, warum man “trotzdem” geeignet sein soll für den jeweiligen Beruf. Auch *Asperger* ist nicht frei von problematischen Zugängen, sei es die vermeintliche Inselbegabung, das Mathe- oder Computergenie oder die Leidenschaft für monotone Aufgabenstellungen mit der immer gleichen Alltagsroutine. Autisten sind sehr unterschiedlich, egal ob sie als Autist, Asperger oder mit Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert worden sind.
Lasst ihnen die Wahl, wie sie sich selbst bezeichnen wollen und damit wohlfühlen. Die historischen Hintergründe zu Hans Asperger selbst spielen im Alltag zu 100% keine Rolle. Die wenigsten Menschen haben je davon gehört.