
Dieser Beitrag war schon länger geplant, ist aber doch relativ umfangreich in der Umsetzung. Im ersten Teil hab ich das Buch Kohl, Seng, Gatti (Hrsg.): Typisch untypisch. Berufsbiografien von Asperger-Autisten. Individuelle Wege und vergleichbare Erfahrungen, 2017 umfangreich rezensiert (Link). Im zweiten Teil geht es um einen gemeinsamen Nenner bei der Beantwortung der vorformulierten Interviewfragen für die 22 interviewten Autistinnen und Autisten. Ich möchte mich dabei auf konstruktive Strategien bei Problemen im beruflichen Alltag beschränken. Welche Bewältigungsstrategien funktionieren, was führt zu einer Verschärfung der Problematik? So mancher Leser mag sich denken, hey, das kenne ich auch und ich bin nicht autistisch! Aber das ist kein Widerspruch, denn es gibt keine autistischen Alleinstehungsmerkmale. Erst die Summe bestimmter Symptome qualifiziert für die Diagnose Autismus. Manche Strategien helfen neurotypisch denkenden Menschen also genauso, andere laufen intuitiver ab als bei Autisten – sie müssen darüber nicht extra nachdenken.
Wenn Du Dich in ein neues Arbeits-/Wissensfeld einarbeiten musst, wie lernst Du die Inhalte am liebsten?
- selbständig erarbeiten (häufigste Antwort), genügend Ruhezeiten
- Selbst machen statt nur gezeigt werden
- Strukturiert (visualisiert), weil Texte schlecht behalten werden können
- Redundanzen, Langsamkeit schwer ertragen, keine Gruppenarbeit
- Mündliche Vorträge schwierig (gleichzeitig zuhören und mitschreiben)
- Schriftliche Kommunikation
- Wichtig, das Ziel zu kennen, um sich nicht in Details zu verzetteln
Was löste berufliche Krisen aus? Wie wären diese im Nachhinein vielleicht verhinderbar gewesen?
- Fragestellungen und Aufgaben wurden nicht als solche erkannt. Lösung: Nachfragen!
- fehlende Mimik, monotone (unfreundliche) Stimme, zu wenig “socialising”, kein Zurückgrüßen. Problem: Diagnose war nicht vorhanden, kein Verständnis gegeben
- Soziales Umfeld hat überfordert. Lösung: Eigenes Büro
- schwerwiegende Kommunikationsprobleme, größere strukturelle Veränderungen (ablehnende Haltung), Lösung: wenig Kontakt mit Kollegen, Arbeitsabläufe selbst anpassen können
- Reizüberflutung und Erschöpfung
- Diagnose in der Schulzeit hätte zu einem Beruf mit weniger sozialer Interaktion geführt
- Soziale Strukturen, betrieblich bedingte Ungerechtigkeiten. Lösung: Übersetzer/Mentor, mit dem man Vorfälle/Situationen besprechen kann
- Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Lösung: mit neutraler Person darüber reden, Strategien suchen
- Einarbeitungsphase problematisch. Lösung: privates Coaching
- keine körperliche Distanz halten. Lösung: Rücksicht nehmen
Welche Strategien hast Du für einen konfliktarmen und vielleicht sogar freundschaftlichen Umgang mit Kollegen?
- Falls Einzelbüro: Man darf nur stören, wenn die Bürotüre offen ist, anders wird signalisiert, dass man seine Ruhe braucht.
- Alleine arbeiten, eigenes Tätigkeitsfeld haben, konfliktgefährdetete Situationen meiden
- freundlich sein, konstruktives Feedback geben, hilfsbereit, kooperativ zeigen, Verlässlichkeit (Problem: Kostet oft Energie, kann in kritischen Situationen versagen)
- Nur dann Partei ergreifen, wenn eine Seite eindeutig im Recht erscheint
- Smalltalk als soziale Anpassungsstrategie, in Konfliktfällen schriftliche Kommunikation bevorzugen (mehr Struktur, mehr Zeit, mehr Geduld)
- “Jeder Mensch ist gleich” (Grundrespekt)
- Feststellen, wie jemand tickt, Gemeinsamkeiten suchen
- Rückzug; Stärken und Schwächen klar kommunizieren
Viele Aspies haben eine Schwäche beim Wiedererkennen von Gesichtern und damit von Menschen. Du auch? Was ist ein guter Umgang mit dieser Schwäche?
- Einfach zurückgrüßen, es wird schon richtig sein.
- Direkt nachfragen, woher man sich kennt
- überlegen, ob die Person in den Kontext passt, Ausschlussverfahren
- auf Details achten (Kleidung, Haare, Stimme, etc.)
- Erkennungstraining durch Bilddateien
Viele Aspies haben eine Schwäche beim Erkennen von Intentionen und Gefühlen von KollegInnen. Was ist ein guter Umgang mit dieser Schwäche?
- Nachfragen. Analysieren, was der andere gesagt hat und mit möglichen eigenen Erfahrungen abgleichen
- Gruppendynamik vermeiden
- Wenn Kollegen plötzlich ausrasten und nicht viel früher schon gesagt haben, was sie am Verhalten des Autisten stört. Vermutlich haben sie versucht, das vorher schon zwischen den Zeilen mitzuteilen, dass Verhaltensänderung gewünscht ist, wurde als Fehlalarm ignoriert. Lösung: gleich von Beginn an gezielt (nach)fragen, ob es momentan Spannungen gibt
- Wiederkehrende Raster bei Menschen: “Allen geht es um ein Sein in Erfahrungsräumen zwischen Liebe und Verlassenheit, Anerkennung und Nichtwahrgenommensein, Distanz und Nähe, Verpflichtung und Freiheit, Gesundheit und Beeinträchtigung, Status und Verlust” (S.146) – Lösung: kontextbezogen erkennen, in welchem Erfahrungsraum sich der Kollege gerade bewegt, gewünschte Reaktion antizipieren aufgrund eigenes Wissens um Konzepte aus der Psychologie und Biologie
- Mut haben, falsche Deutung auszusprechen, zm Korrektur/Klärung zu provozieren
- “Lexikon der Gefühle” erstellen mit passendem Bild und Wirkung auf einen
- Nachfragen: “Ist das ok für dich?”
Hast Du einen hohen Perfektionsanspruch an Dich in Deinem Job? Bist Du nur zufrieden, wenn Du alles perfekt erledigt hast?
- Zeitliche Grenzen setzen für die Lösung einer Aufgabe, um sich nicht zu verrennen
- tolerieren, wenn jemand nicht so ist
Wie gehst du mit Schwierigkeiten bei der Orientierung im Arbeitsalltag und in den Strukturen um?
- Schaubilder malen, um Gesamtüberblick über Arbeitsabläufe zu bekommen
- Achtsamkeit für den Moment, eins nach dem anderen machen
- Um klare Vorgaben bitten
- Arbeitsassistenz
Hast Du Schwierigkeiten, dem Arbeitsinhalt Struktur zu geben, was hilft Dir?
- Schwierigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Lösung: Aufgaben in einzelne Abschnitte einteilen und diese nacheinander abarbeiten
- Strukturen selbst mitgestalten
- To-Do-Listen
Wie gehst Du mit Unvorhersehbarkeiten im Team um?
- Hilfreich: persönlicher Ansprechpartner, an den man sich bei Unsicherheiten wenden kann und der bei Konflikten vermittelt
- Rückzug (dabei in Ruhe lassen)
- Liste schreiben, was nun zu tun ist, Aufgaben abarbeitbar machen
- Emotionale Situationen auf Sachebene zurückbringen
- anderen Vortritt lasen, von außen Veränderungen beobachten, nicht überidentifiziert sein mit der Arbeit
- ruhig bleiben, Übersicht nicht verlieren, selbststimulierendes Verhalten,
Leidest Du an Reizüberflutung? Wie äußert sich das? Was ist Deine Strategie, um mit Situationen der Reizüberflutung umzugehen?
- Auf Pause gehen, in die Natur oder in einen ruhigen Raum
- offen mit eigenen Bedürfnissen umgehen
- Früh aufstehen, wenn es noch dunkel ist und alle anderen noch schlafen
- Kopfhörer, Sonnenbrille gegen Reizüberflutung
- Problem: Mehrere Unterhaltungen in einem Raum, nicht möglich, Gesprächen zu folgen, eigene Gespräche zu führen -> Rückzug, Situation verlassen
- Reizüberflutung zeitlich abgrenzen, um ein Ziel zu haben, wann sie aufhören wird
- positiv zu sich selbst sprechen, sich nicht dafür verurteilen, sich nach der Situation selbst belohnen, um sich zu erholen
- Assistenzhund
- Zeitliche Planung der Einkäufe (Rush Hour vermeiden), einsame Wanderungen durch die Natur, planen wie lange Stadtrummel/Besuch ertragen werden kann
- Ausreichend Schlaf, Beschäftigung mit Spezialinteressen
Was würdest Du Dir an Unterstützung (privat wie institutionell) wünschen, um mit den Schwierigkeiten im Berufsleben besser umgehen zu können oder diese zu lösen?
- Umwelt sollte einem zugestehen, dass man ein bisschen aus dem Rahmen fällt, dass jeder Mensch anders ist und sich das niemand ausgesucht hat
- Mehr Wissen um die Situation spätdiagnostizierter Autisten, die den Einstieg ins reguläre Berufsleben nicht geschafft haben.
- Mehr Verständnis für die Begleiterscheinungen ADHS und Dyspraxie/motorische Unbeholfenheit
- Berufscoaching für hochbegabte AutistInnen (Hürden überwinden, Arbeitsumfeld gestalten)
- Mangel an Arbeitsassistenz, speziell in untypischen Berufen (Arzt, Lehrer)
- Mentor/Ansprechpartner, der übersetzt, vermittelt
- “Geduld mit meiner Art zu arbeiten; ich bin zwar augenscheinlich langsamer, aber dafür gründlicher mit geringerer Fehlerquote.” (S.219)
- Vorgesetzte sollen öfter nachfragen, statt sich ihren Teil zu denken. Dialog ist wichtig, Gefahr sich selbst ungünstig darzustellen, ohne Außenwirkung zu beachten
- Unterstützungsleistungen anbieten: Coaching, Rückzugsräume, reizärmere Arbeitsplätze, Teilzeit, schriftliche Kommunikation, flexiblere Arbeitszeiten (besondere Stärken und Talente kommen dann besser zur Geltung)
- Betriebsrat und Gewerkschaften sind häufig keine kompetenten Ansprechpartner für Autisten.