Besuch des autistischen Planeten: Noise-canceling Kopfhörer

Seit Mitte April besitze ich erstmals “noise-canceling”-InEar-Phones (gegen die Kapselkopfhörervariante entschied ich mich, da ich Brillenträger bin). Nun, was soll ich sagen? Hätte diese schon vor zwanzig Jahren gebrauchen können. Es ist ein völliges neues Lebensgefühl, eine deutliche Steigerung an Lebensqualität und derzeit kann ich das besonders brauchen. Anfangs hab ich die Kopfhörer nur in der Wohnung getragen, wo sie vom lästigen Uhrenticken über den surrenden Kühlschrank bis hin zu den Stimmen aus den Nachbarwohnungen alles vollständig ausfiltern. Auch das Bohren von der Baustelle irgendwo im Haus wird damit zum Schweigen gebracht.

Inzwischen bin ich damit auch gerne draußen, nur in Gebieten mit Straßenverkehr schalte ich die “noise-canceling”-Funktion aus, weil man herannahende Verkehrsteilnehmer sonst gar nicht oder zu spät bemerkt. Eine spürbare Erleichterung und Stressreduktion bringen sie für mich vor allem in größeren Einkaufszentren und Supermärkten. Die surrenden Tiefkühlaggregate werden stumm, auch das hektische Gewusel wird ganz leise. Ich kann beinahe entspannt zwischen den Regalen flanieren und muss nicht mehr hektisch hinein- und hinausrennen. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln kann ich mich besser abkapseln. Dann höre ich über das Smartphone außerdem meine Lieblingsmusik, was den Effekt noch verstärkt. Gestern war ich mit ihnen im Tiergarten Schönbrunn – das hektische Umhertollen der Kinder können die Kopfhörer zwar nicht wegfiltern, aber die grellen Kinderstimmen auf ein erträgliches Maß reduzieren. Bisher war das der Hauptgrund, weswegen ich mich vorher oft viel kürzer als geplant im Zoo aufhielt.

Die “noise-canceling”-Funktion hätte mir damals im Studium und auch bei den Vorbereitungen auf die Prüfungen in der Ausbildung vor zwei Jahren wesentliche Nachteilsausgleiche gebracht. Ich hätte Ruhe beim Lernen gehabt. In schmerzlicher Erinnerung ist mir noch die Statistikprüfung auf der Uni Innsbruck vor über 12 Jahren, als hinter dem Raum gerade die alte Universitätsbibliothek abgerissen wurde. Ich konnte mich bei dem ohrenbetäubenden Lärm nicht konzentrieren und fiel bei der Prüfung durch.

Der einzige Haken der “Bose Quiet Comfort 20 Acoustic Noise Canceling“-Kopfhörer ist der Preis: Mindestens 200 Euro (beim Hersteller 250 Euro) wird man dafür hinblättern müssen. Auf Twitter meinte ich scherzhaft, jeder sollte zusammen mit seiner Diagnose ein gratis Paar Bose-Kopfhörer erhalten. Realistischer betrachtet könnte ich mir vorstellen, dass jeder mit einer offiziellen Diagnose (durch einen Facharzt) zumindest einen deutlichen Preisnachlass beim Hersteller bekommen sollte, entweder aus Kulanz des Herstellers bei Vorlegen eines entsprechenden Nachweises selbst (unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen, das Unternehmen nagt nicht am Hungertuch) oder durch die Krankenkassen. Voraussetzung dafür ist aber überhaupt erst einmal, dass die erhöhte Reiz- und insbesondere Geräuschempfindlichkeit bei vielen (nicht allen!) Autisten als Teil der autistischen Grundsymptomatik anerkannt wird.

Im rückständigen Österreich ist mir überhaupt nichts bekannt, was überhaupt bei Autisten übernommen wird (2012 haben die Gebietskrankenkassen selbst ABA abgelehnt – zum Glück, muss man allerdings sagen, das Early Start Denver Model wird allerdings finanziell unterstützthier ein kritischer Artikel der autistischen Autismus-Forscherin Michelle Dawson aus dem Jahr 2010!). In Summe drehen sich etwaige Förderungen aber nur um (Klein-) Kinder und Jugendliche, Erwachsene fallen vollständig durch den Rost.

In meinen Augen tragen Hilfsmittel wie Noise-Canceling-Kopfhörer wesentlich zu einer Verbesserung der Lebensqualität von (erwachsenen) Autisten bei, sie verringern chronischen Stress durch immanente Reizüberflutung und können die Teilhabe an der Gesellschaft bzw. im Verrichten von Alltagstätigkeiten (Einkaufen, Bus/Zug fahren) erleichtern.

5 thoughts on “Besuch des autistischen Planeten: Noise-canceling Kopfhörer

  1. SWB 25. April 2019 / 18:05

    Ich freue mich sehr für dich, dass sie dir helfen.

    Ich selbst habe mich für die Sony WH-1000XM3 Bluetooth Noise Cancelling Kopfhörer entschieden. Der Preis ist happig, aber er war es mir definitiv wert, denn die Lebensquailität steigt spürbar. Die Effekte, die du in deinem Beitrag beschreibst, empfinde ich ebenfalls als sehr angenehm.

    Zugfahren bzw. der Aufenthalt an Bahnhöfen wird erst mit diesen Kopfhörern möglich für mich und arbeiten in dem Büro, in dem ich derzeit bin, ebenfalls, denn das liegt direkt an einer Bahnlinie.

    Ich habe solche Kopfhörer inzwischen in unserer SHG allen empfohlen. Und ich setze mich im Rahmen der Autismus-Strategie-Bayern dafür ein, dass solche Kopfhörer in den Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen für Autisten mit aufgenommen werden.

    Eine Möglichkeit ist derzeit, beim Integrationsamt (in Bayern heißt das Inklusionsamt und ist am ZBFS – Zentrum Bayern Familie und Soziales angesiedelt) nachzufragen, ob die etwas dazuzahlen. Das ist dann aber eine Einzelfallentscheidung.

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  2. claraclaireclara 28. April 2019 / 14:51

    In was unterscheiden sich die Kopfhörer im Vergleich zu Ohrenstöpseln ? Fühle mich ähnlich beeinträchtigt wie du, besonders bei Arztbesuchen, in vollen Arztpraxen, in denen es wie auf “ einem Bahnhof zugeht“.
    Das liegt aber nicht nur an der großen Geräuschkulisse, sondern noch viel mehr an den Menschen….die kann man leider nicht ändern .
    Das Verständnis fehlt einfach oft, sogar “ nahestehende “ Personen können die Probleme nicht nachvollziehen , obwohl sie theoretisch Bescheid wissen, es aber oft wieder vergessen oder es ihnen schlicvhtweg egal ist.(habe ich zumindest bei den meisten den Eindruck) .

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    • Forscher 29. April 2019 / 20:58

      Die Kopfhörer sind erstens bequemer als Ohrnstöpsel und zweitens filtern sie nicht alle Geräusche komplett weg, sondern vor allem den Geräuschbrei im Hintergrund.

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      • claraclaireclara 30. April 2019 / 8:53

        Aha, danke, hört sich ja vieversprechend an ! Und wie iust es, wenn viele Menschen laut durcheinnder sprechen ?

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