
Es bleibt definitiv keine leichte Aufgabe, Autismus korrekt zu definieren. Über die Rolle Hans Aspergers während der Zeit des Nationalsozialismus kann man differenzierter Meinung sein. Die Medien pickten sich vor allem die bösen Zitate aus dem vorliegenden Artikel und ignorierten die guten Seiten. Aber sind wir doch einmal ehrlich? Ohne Hans Asperger’s Artikel über den “autistischen Psychopathen” (damals hatte das eine andere Bedeutung als heute) hätte Lorna Wing ebendiesen nicht Jahrzehnte später aus den Akten gegraben. Ihr wäre nicht der Gedanke eines “Autismus-Spektrums” gekommen, welches jetzt – 30 Jahre später – Eingang in das medizinische Klassifizierungssystem (DSM, in Europa ICD) gefunden hat. Asperger als vorbelasteten Begriff aus der Medizingeschichte zu verbannen, hieße, einen wichtigen Verdienst an der Diagnose Autismus-Spektrum auszublenden.
“Eine Wissenschaft, die ihre Geschichte nicht kennt, versteht sich selber nicht.”
(Kurt Schneider, 1950)
Eigene Überlegungen
Autismus ist eine neurologische Abweichung von der Mehrheitsgesellschaft. Das ist eine neutrale Definition. Viele Erläuterungen zu Autismus in den allermeisten Medienberichten sind nicht so neutral:
Georg Theunissen begreift Autismus nicht als psychische Störung, sondern als anderen Ausdruck des menschlichen Seins (zitiert nach “Autismus behandeln, aber nicht heilen”).
Häufig jedoch liest man psychischer Erkrankung oder Störung bzw. Entwicklungsstörung. Das hat nach Auskunft einer Psychologin auf meinem Blog damit zu tun, dass Autismus unter „F8 Entwicklungsstörung“ immer noch im ICD 10 zwischen „F7 Intelligenzminderung“ und „F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ zu finden ist.
Das hat leider zur Folge, dass Autismus meist aus der defizitären Sicht in die Medien gelangt:
Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, Rett-Syndrom – der Autismus hat viele Erscheinungsformen. Es geht um angeborene Gen-Defekte, die sich vor allen Wahrnehmungsstörungen auswirken können.
Quelle: http://salzburg.orf.at/news/stories/2909048/
Uns Autist*Innen fällt es bei solchen Beschreibungen schwer, zwischen den Zeilen zu lesen, die gute Absicht des Artikels (= Hilfsangebote) zu honorieren. Denn Störungen, Erkrankungen, Gen-Defekte suggerieren eine notwendige Heilung. Psychische Störungen gar suggerieren eine leichte Beseitigung, denn es liegt demnach nur an der Einstellung, die sich ändern müsse. In keinem Fall erfordern diese Beschreibungen einen anderen Zugang der Umwelt des Betroffenen, nämlich sich auf dessen Wahrnehmung einzulassen, sie als gleichwertig zur eigenen Wahrnehmung zu betrachten und die autistischen Symptome als Folge der anderen Wahrnehmung einzuordnen.
Tebartz van Elst sieht eine autistische Persönlichkeitsstruktur, die von autistischen Zügen (“broader autism phenotype”) über autistische Persönlichkeitsakzentuierung bis hin zur autistischen Persönlichkeitsstörung (das, was Asperger damals als autistische Psychopathie bezeichnete) reichen kann. Viele Autisten reflektieren diese Denkweise, indem sie von autistischen Menschen sprechen, nicht von Menschen mit Autismus – eine linguistische Betrachtung dieses Unterschieds ist hier zu finden.
Bei van Elst verläuft die Grenze zwischen Autismus als Normvariante und als Krankheit/Störung fließend – mehr zu dem Thema in meinem Artikel.
Tebartz van Elst schlussfolgert:
“Eine Autismus-Diagnose diagnostiziert keine Krankheit, sondern beschreibt ein “So-Sein”. So, wie Dirk Nowitzki groß ist.”
Neutral betrachtet begreife ich mich als autistische Persönlichkeit, mit “autistischem So-Sein”, “dem autistischen Spektrum angehörend”.
Van Elst möchte den Leidensdruck aber nicht verharmlosen – für ihn beginnt die Störung dort, wo aus starren Eigenschaften einer Persönlichkeit bedeutsame Beeinträchtigungen im Sozialverhalten resultieren.
Ist es zulässig zu sagen: “Autismus ist eine Behinderung.”?
Im Gegensatz zu Krankheit oder psychischer Störung steht hier nicht die Therapie oder der Heilungsgedanke im Vordergrund, sondern die Akzeptanz des Ist-Zustands der Person – bestenfalls mit Entgegenkommen der Umwelt (Inklusion). Nicht alle Behinderungen bei Autismus entstehen durch die Umwelt. Eine extreme Lichtempfindlichkeit hat nichts mit Menschen zu tun, auch Begleiterscheinungen, die zu einer höheren Schweregradseinstufung führen (z.b. Epilepsie, ADHS oder Ehler-Danlos), haben rein biologische bzw. neurologische Ursachen.
Davon abgesehen entsteht Autismus als Behinderung aber vielfach durch eine soziale Norm, die sich auch im Kriterienkatalog für die Autismus-Diagnose widerspiegelt:
Van Elst bemängelt etwa, dass klinische Relevanz durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen festgelegt werde (während der Kriege interessierte niemand Depressionen), kognitive Störungen von der Erwartungshaltung abgeleitet werden (erwartet wird geordnetes Denken, Logik, angemessene Emotionen, zielgerichtetes Verhalten), Leidensdruck hängt stark vom Umfeld und Kontext ab, ist situationsabhängig, kann von Tag zu Tag wechseln.
Für Autismus-Diagnosen gibt es bis heute keine klaren Ursachen, weder neurologisch (im Gehirn) noch genetisch (in der DNA), sie basieren alleine auf sozialen und moralischen Normen (z.B. “hält kein Blickkontakt”, “wedelt mit den Armen”). Das ist weder objektiv noch statistisch nachweisbar. Über die Ursachen meines eigenen Autismus habe ich als 47,XXY-Mensch wahrscheinlich weit konkretere Vermutungen als viele idiopathische (unbekannte Ursache) Autisten. Aber auch das alleine genügt nicht, da es auch signifikant viele 47,XXY ohne Autismus-Diagnose gibt.
Eine Bitte bleibt am Ende – sagt bitte nicht Krankheit, sagt nicht Wahrnehmungsstörung, sagt nicht Gendefekt.
Wenn jemand fragt: “Was hast Du?” – dann antworte ich: “Ich bin Autist.”
“Was ist das?” – “Ich habe eine andere Wahrnehmung als Du. Ich sehe mehr Details, ich nehme intensiver wahr, ich verstehe wörtlich.” –
“Ist das eine Behinderung?” – “Im Beisein fremder Menschen spüre ich meinen Autismus stark, dann fühle ich mich oft behindert. Ich spüre ihn aber auch dann, wenn ich meine Stärken ausleben kann. Dann nehme ich meinen Autismus positiv wahr.”
Abschließend … mir ist bewusst, dass diese Sichtweise sich nie ganzheitlich für alle im Spektrum durchsetzen kann und wird. Das ist auch gar nicht ihr Anspruch. Es ist meine Sichtweise, ich kann nur für mich sprechen. Das Spektrum ist so vielfältig, mit sehr stark betroffenen Autisten, die nicht sprechen können, die große Probleme mit Kommunikation von Grundbedürfnissen haben. Für sie kann ich hier kein Fass aufmachen und behaupten, Autismus sei keine Störung, keine Behinderung, nur ein So-Sein. Für alle Autist*Innen kann zu einem Zeitpunkt im Leben der Wunsch bestehen, weniger autistisch zu sein, viele alltägliche Schwierigkeiten nicht zu haben, so banale Wünsche wie die gleiche Kleidung tragen zu können wie Gleichaltrige auch. Diese Sichtweise anderer Autisten oder deren Angehöriger haben wir* im Spektrum zu respektieren.
Den Vergleich mit Nowitzki finde ich witzig, aber nicht ganz zutreffend, weil man Größe sieht, Autismus nicht. Zuerst hatte ich einen Vergleich mit Albinismus für treffender gefunden – zugegeben nicht so witzig – aber da SIEHT man ja auch das Anderssein, bei Asperger Autismus ja jedoch selten. Autismus ist offenbar nicht vergleichbar, es hinkt irgendwie immer. Vielleicht eher mit Homosexualität? Man sieht es nicht, man kann es unter viel Anstrengung kaschieren und sich dem Mainstream anpassen, aber den psychosozialen Stress erlebt der/die Betreffende selbst. Diesen Stress kann man nur reduzieren durch mutige Vorreiter und eine offenere, tolerantere Gesellschaft. Wäre das nicht ein guter Anfang?
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Gute Gedanken, Vieles beschäftigt mich auch. Gerade der fiktive Dialog zeigt auf wie anstrengend und oft fruchtlos es ist sich um eine Definition dieses Syndroms zu bemühen. Manchmal verstumme ich und kann nichts mehr dazu sagen. Danke für die Worte, sie helfen.
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