Welt-Autismus-Tag: Wir sind eine Krankheit …

Freud und Leid liegen manchmal nah beieinander. Über Twitter stoße ich auf eine großartige Presseaussendung über Autismus von Martin Schenk, dem Menschenrechtsaktivisten, Psychologen und stv. Direktor der Diakonie Österreich. Der Text kommt sprachlich völlig ohne defizitäre Anwandlungen aus, so ist nicht von “-Störung”, sondern nur vom Autismus-Spektrum die Rede …

Viele Menschen im Autismus Spektrum sind Vorurteilen und Stigmatisierung ausgesetzt. „Dieser Tag ist ein Weckruf für Respekt und Achtsamkeit gegenüber einfachen Bildern und falschen Diagnosen“, so Schenk, selbst Psychologe. […] Schätzungen sprechen von 80 000 Betroffenen in Österreich.

Danach folgt ein anschauliches Beispiel anhand eines Schülers mit der Diagnose Asperger und ein Appell für mehr Inklusion.

„AutistInnen brauchen ein Gegenüber, das sensibel dafür ist, dass sie ihre Umwelt anders wahrnehmen und soziale Prozesse und Begegnungen anders verarbeiten”

In Summe ist es der beste Text, den ich je in Österreich von Nichtautisten über Autismus gelesen habe. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Martin Schenk und Christiane Dobernig.

In drei Tageszeitungen wurde die Presseaussendung der Diakonie Österreich (Original-Quelle von APA OTS, abgerufen am 30.03.18) sofort aufgegriffen und umgeschrieben. Doch anscheinend kann man es der österreichischen Bevölkerung nicht zumuten, neutral über Autismus zu berichten.


Krankheit, Störung und Leid

Die Tiroler Tageszeitung (letztes Update, 29.03.18, 13.09) schreibt im Untertitel ….

Die Diakonie Österreich verlangt einen „Weckruf für Respekt und Achtsamkeit“ gegenüber der Krankheit.

Und weiter ….

[….] Betroffene berichten, eine Diagnose sei nicht so einfach. Meist wird Autismus recht spät erkannt. Und dann wird die Krankheit in Österreich stiefmütterlich behandelt. Es gibt kaum Therapieplätze oder Betreuung für die Kinder in der Schule, beklagte die Diakonie am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Wien. In Österreich leiden rund 80.000 Menschen an Autismus. […]

Und dann legt man Martin Schenk einen Begriff in den Mund, den er nicht gesagt hat:

Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich, wünscht sich aber mehr Bewusstsein für die Krankheit, „einen Weckruf für Respekt und Achtsamkeit“.

Beim “Standard” (letztes Update 29.03.18,14.02) spricht man vom (korrekten) Fachbegriff “Autismus-Spektrum-Störung“.

Aber auch hier steht im Text …

Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich, wünscht sich aber mehr Bewusstsein für die Krankheit, “einen Weckruf für Respekt und Achtsamkeit”. –

Schließlich die “Salzburger Nachrichten” (letztes Update 29.03.18,13.54), wo wieder das steht, was bei der TT geschrieben wurde:

Und dann wird die Krankheit in Österreich stiefmütterlich behandelt. Es gibt kaum Therapieplätze oder Betreuung für die Kinder in der Schule, beklagte die Diakonie am Donnerstag. In Österreich leiden rund 80.000 Menschen an Autismus.

Und natürlich auch hier …

wünscht sich aber mehr Bewusstsein für die Krankheit

In allen drei Fällen war es dem zuständigen Redakteur offenbar nicht möglich, das neutrale “im Autismus-Spektrum” einfach zu übernehmen. Es war unbedingt notwendig, “-Störung” anzuhängen bzw. eine Krankheit daraus zu machen.

Ein Positivbeispiel dagegen vom “Kurier” vom 30.03.18, danke an Uwe Mauch.

Negative Assoziationen mit dem Krankheitsbegriff

Meine lieben Blogleser, ich weiß genau, was bei dem durchschnittlichen Zeitungsleser hängen bleiben wird, nämlich, dass Autismus bzw. Asperger eine Krankheit ist. Woher ich das weiß? Ob ich mich Bekannten oder Fremden gegenüber oute, immer kommt etwas mit Krankheit oder Erkrankung zurück.

Die Assoziationen mit Krankheiten sind weitreichend negativ, reichen von “Warum inkludieren, wenn es für sowas Förderschulen gibt?” über “Krankheiten kann man heilen und sind Therapien sollten das Ziel der Heilung haben.” bis zu “Warum sollen Arbeitgeber einen kranken Menschen einstellen?” Eine Krankheit impliziert aber auch ein Tabu, insbesondere, wenn es als psychische Erkrankung verstanden wird. Über so etwas spricht man nicht. Sogar Krebserkrankungen werden häufiger thematisiert als Autismus. Jedes körperliche Gebrechen gehört zum Alltagstratsch.

Von Krankheit sprechen ist nicht weniger Stigmatisierung, sondern mehr

Martin Schenk wünscht sich mehr Respekt und Achtsamkeit, weniger Stigmatisierung und Vorverurteilung. Der Zusatz “für die Krankheit” verkehrt diesen Wunsch auf groteske Weise ins Gegenteil. Indem pauschal von Krankheit gesprochen wird, wird erst recht stigmatisiert, wird es recht Respekt verweigert, werden einfache Bilder benutzt.

Wir haben in Österreich einen sehr weiten Weg vor uns, um die UN-Behindertenkonvention zu erfüllen. Die aktuelle Regierung hat sich dagegen entschieden, möchte zurück zu Sonderschulen, zögert die Gesamtschule hinaus, ist eher inklusionsfeindlich eingestellt und kürzt dem AMS die Mittel, welche letzendlich auch Autismus-Projekten bei der Jobsuche zugute kommen. Und unter den arbeitsfähigen Autisten sind leider SEHR viele Menschen arbeitslos, die auch von in dramatischer Weise von einem Umbau des Sozialstaats in Richtung Hartz4 betroffen wären.

Appell an Journalisten

Liebe Journalisten, die diese PA gelesen haben oder noch vorhaben, über Autismus zu schreiben. Der Aussendung ist im Prinzip nichts hinzuzufügen. Autismus ist keine Krankheit, denn Autismus ist nicht heilbar. Autismus ist auch keine Erkrankung, denn Autismus ist von Geburt an vorhanden. Manche Symptome sind in der Kind- und Jugendzeit stärker, manche schwächer ausgeprägt. Bei vielen Autisten verändern sich die Symptome im Laufe des Lebens, beim Übertritt in die Pubertät und ins Erwachsenenalter. Der Autismus wächst sich jedoch nicht heraus (deswegen halte ich es für einen Fehler, dass z.b. die Rupertus-Buchhandlung in Salzburg Autismus-Literatur unter Pädagogik einstellt, nicht aber unter Psychologie, wie in anderen Buchhandlungen). Früher hat man frühkindlichen und Asperger-Autismus unterschieden. Frühkindlicher Autismus weißt – no na – von früher Kindheit an ausgeprägtere Symptome auf, sodass die Diagnose oft rechtzeitig gestellt werden kann. Bei Asperger-Autisten ist die Symptomatik anfangs unauffällig und kann bei normaler Intelligenz später von begleitenden Depressionen und Angsterkrankungen maskiert werden. Die Folge sind zu späte Diagnosen. Asperger-Autisten, die erst im Alter von 40 oder 50 diagnostiziert werden, sind keine Seltenheit. Das liegt aber auch daran, dass es die Diagnose Asperger erst seit 1993 offiziell gibt.

Was sich sehr wohl feststellen ist, ist der Grad der (Schwer-)Behinderung bei Autismus. In unserer leider nicht sonderlich inklusionsfreundlichen Gesellschaft ist das häufig notwendig, um wichtige Nachteilsausgleiche in Schule, Studium und Beruf sowie staatliche Unterstützung zu erhalten. Autismus für sich ist aber keine Behinderung. Die Folgen der autistischen Wahrnehmung können eine Behinderung darstellen. Das empfindet jeder Autist unterschiedlich. Ebenso können psychische, genetische oder neurologische Begleiterkrankungen vorliegen, die in Summe zu einem Krankheitsbild oder einer Schwerbehinderung führen. Das lässt sich aber keineswegs verallgemeinern.

Schließlich wünsche ich mir, wenn auch vermehrt aus der Stärkenperspektive über die Spezialinteressen, über Stärken und Talente geschrieben würde. Über vielfältige Interessen gibt meine Literaturliste beredte Auskunft. Zeigen Sie bitte auch,  dass sich ihre Spezialinteressen auf alle beruflichen Sparten beziehen, wie diese Studie zeigt oder die Berufsbiographien von 22 Asperger-Autistinnen und -Autisten.

Vielen Dank!

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