Gestern hatte ich ein schönes Telefonat mit einem netten Menschen, was schon außergewöhnlich für mich ist, denn schöne (lange) Telefonate kann ich an einer Hand abzählen im Jahr(zehnt). Dabei ist ein Metapher gefallen, die mich später noch beschäftigt hat. Weil sie so viel Wahres enthält über mein Leben: Die Türöffnermenschen.
Seit ich zurückdenken kann, hat es diese Lebensmenschen gegeben, die in entscheidenden Lebensphasen den Rückhalt, das Verständnis oder auch das freiwillige Engagement gaben, damit sich etwas vorwärts bewegte. In meiner Kindheit war es ein Kindermädchen, genauer gesagt eine gute Bekannte der Familie, zehn Jahre älter als ich, die mich unter ihre Fittiche nahm. Ich erinnere mich an ihre Hamster und daran, dass ich vor ihrer Wohnung Fahrrad fahren lernte (mit neun Jahren).
Später, in der langen Zeit vor der Diagnose, immerhin fast 25 Jahre, sind die Erinnerungen weitgehend verblasst. Vieles in der Schulzeit war eine dunkle Zeit, viele Enttäuschungen, viele Situationen, in denen ich alleine auf mich gestellt war und nicht begriff, warum ich mich so oft wie ein Fremdkörper fühlte und mich nicht so artikulieren konnte, dass ich verstanden wurde. In der Übergangsphase von der Schulzeit ins Studium kam das Internet und das erste Mal traf ich auf Gleichgesinnte. Auch, wenn sich darunter nicht zwingend Autisten befanden, hatte doch jeder einen gewissen “Schuss” Autismus in sich, anders kann ich diese tiefe innige Verbindung nicht erklären, bei der man sich dem anderen gegenüber nicht erklären muss, sondern durch die schiere Koexistenz kommuniziert. Die ersten richtigen Freunde traten in mein Leben, M., B., S. und mein Mentor, und später chb. Inzwischen kennen wir uns seit 10 bis 15 Jahren. Als mein Mentor sich das Leben nahm, riss es eine große Leere in mein Leben. Die Einzigartigkeit der Individuen wurde mir erst richtig bewusst. Ich hab mich durch sie überwunden, meine Grenzen auszuloten, bin mit dem Zug erstmals durch halb Deutschland gefahren, um sie zu treffen. Man hat tiefsinnige Gespräche geführt, vis-à-vis, im Internet, auch per Skype und Telefon. Das war eine schöne Zeit.
Nach dem Studium kam die schwierige Selbstfindungsphase im ersten Job, in einem Umfeld, das es einem undiagnostizierten Aspie nicht leicht gemacht hat, zurechtzukommen – speziell, wenn man sich und seine eigenen Unzulänglichkeiten nicht einmal begreift. Bei allem Ärger und allen Sorgen gab es in dieser Zeit auch schöne Erlebnisse, an die ich heute gerne zurückdenke. Meine ersten Schritte in den, ich nenne es Schmalspuralpinismus. Für echte Alpinisten sind meine 70 Touren im Jahr gar nichts, das meiste sind einfache Wanderungen, öfter weglos zwar, aber nichts zum klettern, nichts wirklich risikoreiches oder besonders herausragendes. Für mich ist all das herausragend, angesichts meiner Biographie. Und in dieser Wegfindungsphase, wortwörtlich, traten W. und R. in mein Leben, brachten wir alles bei, was ich brauchte, um mich selbstständig in die Berge zu trauen. Von der Angst, alleine im Wald zu sein, dazu, den Wald absichtlich alleine aufzusuchen. W. brachte die Ruhe, das Zuhören, die Liebe zur Fotografie, das unglaubliche Gedächtnis und Erkennen aller entfernten Gipfel, das ich mir ebenfalls einverleibte. Etwas, das besonders gut funktioniert, wenn man ein pattern thinker ist, wenn man Muster detektiert, abgleicht und analysiert. So einen pattern thinker hatte ich gefunden, und bei R. war es ganz ähnlich. Durch R. kam ich überhaupt erst auf den Zusammenhang zum Autismus und letzendlich dadurch zu meiner Diagnose.
Ein weiterer Schlüsselmensch ist M., durch sie habe ich meine Angst vor dem Klettern weitgehend abgelegt, aber nicht nur davor, sondern vor allem das Gefühl, das viele Autisten teilen, das unangenehme Gefühl, sich vor anderen zu exponieren und schließlich zu blamieren, alleinig durch die Anwesenheit und dass alles, was man tut, kritisch und streng beäugt und kommentiert wird. In meinem Fall war das der Besuch eines Umkleideraums und einer Sporthalle. Ich ging zuletzt dank ihr alleine hin- sie hatte mich hineingeführt, mich daran gewöhnt, ich kannte die Wege, die Räumlichkeiten, das Prozedere. Ich merke jetzt, wie schwer es mir ohne sie oder eine vergleichbare Motivatorin, eine Assistenz sozusagen, fällt, in eine fremde Halle zu gehen, wo ich nichts und niemanden kenne. Wo ich wieder mehr darauf konzentriert bin, wie andere reagieren statt mich auf mich selbst zu fokussieren.
Ich lasse gewiss wichtige Menschen weg, die ich erwähnen sollte und müsste. Es ist keine vollständige Aufzahlung, ich schreibe gerade das nieder, was mir unmittelbar präsent ist. Und der wichtigste Türöffnermensch in den letzten Jahren war S. Sie hat aus einem Antrieb der Selbstlosigkeit dafür gesorgt, dass die Dinge bei mir ins Rollen kamen, dass ich zur Diagnose und zu wichtiger Hilfe kam, die mir auch zustand, aber von der ich damals nicht wusste – vieles in Österreich ist mir auch nach mehr als einem Jahrzehnt nicht bekannt – und selbst wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich alleine nicht die Überwindung gehabt, mir selbst die Hilfe einzufordern. Meistens Telefonate, aber auch persönlich vorstellig werden ohne Voranmeldung. Ich bin ihr so unendlich dankbar.
Es macht mich traurig, dass B. verschwunden ist, mit der ich viele schöne Abende verbringen konnte, mit der ich mich so tiefsinnig unterhalten konnte. Sie hat sich seit Monaten nicht mehr gemeldet, auch auf SMS nicht mehr reagiert. Ich vergesse nie. So wenig wie ich leider peinliche, bedrückende, bedrohliche Situationen vergesse und Ungerechtigkeiten, Niedermachen, Intrigen, so wenig vergesse ich die Menschen, die mir gut taten. Fluch und Segen eines ausgeprägten Langzeitgedächtnisses. Und K und B und M gibt es auch noch, und D. , und ich könnte alle Buchstaben des Alphabets aufzählen und merke daran, dass sich – dank Internet – ein großer Bekannten- und Freundeskreis ergeben hat, der wirklich wertvoll ist. Das einzige, was mir – momentan – zu meinem Glück fehlt, dass diese Freunde unmittelbar greifbar sind, vor Ort, dass man sich sehen kann, wenn einem danach ist, und ist es nicht langwierig vorausplanen muss, was nicht meine Stärke ist.
Aber es ging in diesem Beitrag um Türöffnermenschen, in Lebenslagen, in Krisenlagen, wo man alleine sich nicht überwinden kann, die richtige Idee erst gar nicht einfällt, wo man nur einen kleinen Stoß braucht und sich traut, und dann läuft es quasi von alleine, wie ein Uhrwerk. Etwas professioneller ausgedrückt eine Assistenz fürs Leben, die aber nicht nur neutral da ist und formell mithilft, sondern wo man das Gefühl schätzt, dass eben dieser Mensch gerade an meiner Seite ist, und kein anderer ebendiese Aufgabe übernehmen könnte. Es ist schön, dass es diese Türöffnermenschen gibt :-)
Interessante Aspekte. Bei einer autistischen Verwandten von mir ist es ganz augenfällig, daß sie erst mit einer Mentorin beruflich in die Wege kam. Bei mir selbst sind es mehrere unauffällige, aber treue Unterstützer. Sie bewirken nicht viel, aber ich kann auf sie zählen. Ich wünsche mir solche Menschen auch für meine Kinder. Ich hatte auch schon überlegt, ob Autist-Mentoren-Verindungen häufiger als vermutet auftauchen.
Die Kehrseite davon sind wohl viele, viele Verbindungen, in der Autisten psychologisch und strukturell von jemandem abhängig werden, weil sie ihn oder sie als Hilfe für das Funktionieren in der Aussenwelt unbedingt brauchen.
LikeLiked by 1 person
Mit der Kehrseite hast Du leider☠ Recht. Das hab ich erst nach meiner Übersiedlung erkannt und merke es auch jetzt wieder, wenn es um Urlaubspläne geht. Alleine fehlt schon deswegen die Motivation, weil ich sonst auch großteils alleine bin.
LikeLiked by 1 person
Schade
LikeLike