Was ihr nicht seht …

Blogger-Kollegin Blutiger Laie hat einen klasse Beitrag zu Kompensation bei Erwachsenen und ihren Folgen geschrieben:

Ja, es gibt sie, die erwachsenen Autisten, die so gut kompensieren können, dass sie nach außen hin weniger auffallen als andere Autisten mit sichtbaren Meltdowns, Stimming, Selbstverletzungen, Wutausbrüchen, etc. Ich zähle weitgehend dazu, Wutausbrüche richten sich bei mir meistens gegen Dinge und sind am häufigsten Folge von Frustration (speziell, wenn eine technische Herausforderung wieder einmal an meinem Mangel an Vorstellungsvermögen scheitert).

Was ihr nicht seht, sind die stillen Erschöpfungszustände:

Erschöpfungszustände sind gleichwohl häufig, stillerer Natur: Migräne, Erschöpfung, Energielosigkeit, Deprimiertheit, Schlaflosigkeit, Grübeln und Schwirren im Kopf, Rückzug. Das Brauchen von sensorischer und sozialer Ruhe, von Ausgleich im Lesen, Musikhören, an die Wand starren. Soviel zum aktuellen Überflutungszustand, z.B. nach zuviel “socializing”.

Der Alltag ist täglich eine Herausforderung, sich zu Struktur zwingen (im Haushalt, Einkaufen, evtl. Medikamente), sodass nicht mehr viel Energie für die anderen (schönen) Dinge des Lebens übrig bleibt.

Schnelle Wechsel snd schwer, mit der fehlenden Flexibilität geht auch viel Schönes verloren, spontane Besuche z.B., ein ungeplanter Spaziergang, neue Sportarten ausprobieren. Und weil die Kräfte im täglichen Kampf verbraucht werden, können sie nicht für langfrstige Ziele eingesetzt werden. Obwohl man also die Fähigkeiten hätte, z.B. umzuziehen, sich zu bewerben, ein größeres Projekt anzugehen, tut man es nicht. Es passt nicht mehr in den Kopf. Das kann alles betreffen, was außerhalb des direkten Alltags liegt: Urlaubspläne, Autokauf, finanzielle Vorplanung, Steuererklärung usw. usf.. Mancher mag hier in eine Art Abhängigkeit von äußerer Unterstützung geraten, nicht, weil er faul wäre oder etwas im Notfall nicht könnte, sondern weil schlicht die Kraft nicht mehr da ist.

Das wird von außen leider sehr oft nicht verstanden.

– Warum hast Du Dich nicht schon längst woanders beworben?
– Schau Dich doch mal nach einer neuen Wohnung um?
– Warum fliegst Du nicht mal in Urlaub?
– Warum fängst Du nicht mit dem X-Sport an?

usw.

Der Kopf ist bereits gefüllt mit dem, was einen morgen erwartet, die folgenden Wochen. Alles, was weiter weg ist, ist ein riesiger Berg an Unsicherheit, etwas, das nicht planbar ist. Das kann einen regelrecht darin lähmen, von seiner Routine abzuweichen. Auch darin zeigt sich die fehlende Flexibilität als Kernsymptom bei Autismus. Ich z.B., esse nicht täglich dasselbe, habe keine TV- oder Spiele-Rituale, mache nicht an einem bestimmten Wochentag immer dasselbe. So gesehen bin ich gegenüber anderen Autisten ziemlich flexibel. Und trotzdem geht es mir ganz genau so wie im zitierten Text beschrieben, was im Umfeld häufig auf Unverständnis stößt und Rechtfertigungszwänge auslöst.

Natürlich hängt vieles vom Umfeld ab, von der aktuellen Lebenssituation, ob man depressiv ist oder ob man eine positive Lebensphase hat. Dann ist auch mehr Kraft da, als wenn die Depression einen bereits im Alltag niederringt, und Gedanken an die Zukunft weit weg erscheinen. Es ist dann keine Schande, nach Unterstützung zu suchen, sich bei langfristigen Projekten helfen zu lassen, Informationen einholen zu lassen, die Ungewisses planbarer machen. Je mehr Informationen vorhanden sind, desto leichter kann man (nicht nur Autisten) sich darauf einstellen. Hier bemerke ich auch eine gewisse Angst vor der Angst, die für Autisten typisch scheint (auch bei Prüfungsangst beschrieben, z.b. hier), also die eigentlich paradoxe Angst/Blockade, sich die Informationen einzuholen, die die Angst/Blockade abbauen würden. Wenn das ggf. Dritte übernehmen können, ist schon einmal ein wesentlicher Schritt zur Abbau der Blockade getan.

Ein unterstützendes, verständnisvolles Umfeld ist wesentlich für Autisten!

 

Advertisement

Ich kann mich nicht verleugnen

overlaps

Einige Klinefelter-Träger wollen nicht, dass man Klinefelter mit irgendetwas anderem im Zusammenhang bringt als Klinefelter, auch wenn die Forschung wegen dem zweiten X-Chromosom manchmal von Störung der Geschlechtsentwicklung spricht. Undenkbar auch Zusammenhänge mit ADHS oder Autismus, obwohl es mehr Überlappungen als Gegensätze gibt.

Auch bei Autisten herrscht bisweilen der Wunsch nach Abgrenzung. Die einen wollen Asperger von Autisten trennen, die anderen Asperger von anderen genetischen Syndromen. Die Ursache ist unbekannt! Es gibt keine Überschneidungen. Das verwässert alles.

Beide Gruppen, sowohl die Gruppe dieser Autisten als auch die der Klinefelter, eint die Überzeugung, dass es sich bei ihrer Veranlagung bzw. Behinderung um ein Alleinstehungsmerkmal handelt.

Nature never draws a line without smudging it. (Winston Churchill)

Ich verstehe den Wunsch nach Eindeutigkeit, und ich hätte mir jahrelange Unsicherheit und Leidensdruck erspart, wenn sich Genetik und Alltagsprobleme eindeutiger zuordnen ließen. Im Grunde genommen gibt mir meine Erstdiagnose XXY auch die Sicherheit, dass die Zweitdiagnose Asperger stimmig ist,weil sich so viele Symptome überlappen. Die Forscher dürfen untereinander streiten, ob die Symptome unterschiedliche Ursachen haben. An meinem Gefühl, sich in den Erzählungen anderer Autisten wiederzuerkennen, ändert das allerdings nichts. Und die große Resonanz auf frühere Blogbeiträge zeigte, dass sich sehr viele Autisten in meinen Schilderungen als Klinefelter-Autist wiedererkennen.

Continue reading

2. April: Welt-Autismus-Tag

Um ehrlich zu sein: Ich mag nimmer darüber streiten, in welcher Farbe Gebäude angeleuchtet werden – die meisten Teilnehmer wissen nicht einmal, dass die Farb-Initiative für Autismus auf AutismSpeaks* zurückgeht. Diejenigen, die AutismSpeaks aktiv bewerben, müssen sich Kritik gefallen lassen, und diejenigen, die deren Ziele auch noch gut finden, müssen sich auf harte Gegenwehr einstellen. Aber Österreich? Hier ist die farbliche Nähe zu AutismSpeaks das geringste Problem.

“Rain Man’s Home”, welche die blaue Kampagne in Österreich initiiert hat, distanziert sich zudem, wenn auch etwas halbherzig, weil schwammig formuliert:

Es ist uns wichtig zu betonen, dass wir die Idee der blauen Beleuchtung von Autism Speaks übernommen haben, uns inhaltlich aber nicht konkret dieser Aktion anschließen.

Die Autistenhilfe Tirol kritisiert, dass in Österreich weder in der Ärzteausbildung noch im Psychologiestudium etwas über Autismus gelehrt wird, ein eigener Fachlehrgang an der Universität fehle. Hans Asperger würde sich im Grabe umdrehen, immerhin ist es seinem Engagement während der Nazizeit zu verdanken, dass Autisten nicht umgebracht worden sind. Und zum Dank vergessen wir, dass Autismus existiert, noch dazu Asperger?

Weitere Baustellen habe ich bereits im Blogeintrag vom 5. März aufgelistet.

* Zu AutismSpeaks gibt es heftige Kritik seitens der Autisten, siehe z.B.

Die Kritik auf Deutsch zusammengefasst:

  • Autism Speaks besitzt kein einziges autistisches Mitglied in ihrer Organisation.

  • Autism Speaks spendet nur 3 % ihres Budgets der Familienförderung

  • Viel vom Autism Speaks-Geld fließt in die Forschungszentren, um einen Weg zu finden, Autismus zu eliminieren, und damit folglich Autisten (wahrscheinlich durch einen pränatalen Test, in derselben Weise, wie der Down-Syndrom-Test ausgeführt wird)

  • Autismus Speaks produziert Werbung, Kurzfilme, etc. darüber, was für eine Last Autisten für die Gesellschaft sind

Statt also Autisten zu helfen, ihre Familien zu unterstützen, in Therapiemöglichkeiten zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen, die auf autistische Bedürfnisse abgestimmt sind, wird mehr Wert darauf gelegt, herauszufinden, welches Gen Autismus verursacht, um durch Abtreibung erst gar keine Autisten mehr auf die Welt zu bringen. Auch legt AutismSpeaks viel Wert auf biomedizinische Forschung, Darmreinigung, etc., und suggeriert eine Heilung von Autismus durch böse Bakterien.