Zu den genetischen Ursachen von Autismus gibt es bereits einige Forschungsergebnisse. In einem 2012 erschienenen Artikel von Devlin und Scherer, Genetic architecture in autism spectrum disorder, werden rund 20 % der genetischen Ursachen identifiziert:
Darunter finden sich mit Autismus verwandte Syndrome, z.B. Fragiles X oder das Rett-Syndrom. Ebenso seltene Chromosomenvarianten wie Trisomie 21, 45x-Turner-Syndrom, 47,XYY oder 47,XXY (Klinefelter-Syndrom), bzw. seltene “copy number varations” oder Mikrodeletionen, z.B. 22q11 (DiGeorge-Syndrom). Schließlich gibt es auch seltene “penetrante Gene”, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit den jeweiligen Phänotyp verursachen.
Einschub: Was sind copy number variations, kurz CNV?
Es handelt sich hier um ….
- submikroskopische Verdopplungen
- Löschungen
- Neureihung von Sektionen der DNA
Diese Variationen, die in Länge und Position variieren können, können die Genfunktion zu unterbrechen. Manche CNVs werden vererbt, andere entstehen spontan, daher de novo genannt.
Die meisten sind gutartig, aber auch einzigartig, d.h. wurden kaum häufiger als zwei Mal in einem Sample gefunden. Bei autistischen Kindern kommen unterbrochene Gene häufiger als bei der Kontrollgruppe vor. Jedes Kind zeigt unterschiedliche Störungen in unterschiedlichen Genen.
Es gibt zahlreiche möglicherweise Autismus verwandte CNVs, aber keine einzelne Stelle, der mehr als 1 % der Fälle erklärt.
Warum sollte man erwarten, dass die Genetik von Autismus eine 1:1 Entsprechung zwischen Mutation und Diagnose zur Verfügung stelle, wenn Autisten untereinander verschiedenes Verhalten zeigen?
Eher tragen manche Mutationen zu vielen Diagnosen bei, z.B. intellektueller Beeinträchtigung, Epilepsie, ADHS, Schizophrenie – eine ”1:n”-Beziehung.
Die Diagnose von Autismus beruht auf Verhalten, und Autismus teilt Verhalten mit anderen Diagnosen (z.B. ADHS, Schizophrenie, Borderline …). Es gibt bislang kein autismusspezifisches Verhalten.
Nach einer Studie geschehen CNVs vier Mal häufiger auf der Seite des Vaters als bei der Mutter. Mit steigendem Alter des Vaters nimmt auch die Zahl der de novo-Mutationen zu. Das ergibt Sinn: Spermazellen teilen sich alle 15 Tage und je älter der Vater ist, desto größer die Anzahl der Mutationen, die zu Autismus beitragen könnten.
Man weiß jedoch immer noch nicht, ob eine Mutation ein spezifisches autistisches Verhalten hervorruft, oder ob ein spezifisches Verhalten eine Vielzahl von Mutationen benötigt. In den letzten Jahren glaubt man eher an die “multiple-hit”-Hypothese, d.h. einzelne Mutationen für sich sind nicht ausschlaggebend, aber kommen mehrere zusammen, wird es brenzlig. Es scheint so, als sei die Entwicklung des Gehirns äußerst sensibel auf ein Ungleichgewicht bei der Gendosierung (Anzahl der Kopien eines Gens in einer Zelle).
Einschub Ende: (Quelle: Temple Grandin, The Autistic Brain, Kapitel 3)
Der Bedeutung bekannter genetischer Beeinflussung der Autismus-Wahrscheinlichkeit wird durch die neue S3-Leitlinie für Autismus, bei der es um Screening-Faktoren geht, Rechnung getragen:
“Genetische Befunde, die mit einer erhöhten ASD-Rate assoziiert sind (bestimmte Mutationen, Mikrodeletionen oder -duplikationen, Chromosomenaberrationen wie das Klinefelter-Syndrom)”
Quelle: Medscape, 26.11.15
In den anderen Fällen spricht man von idiopathischem Autismus (d.h., die Autismus-Ursache ist unbekannt), bei begleitenden Syndromen manchmal von syndromalen Autismus. Das ist jedoch bisweilen eine irreführende Bezeichnung, da etwa das Klinefelter-Syndrom auf den Testosteronmangel bezogen ist, dieser jedoch nach derzeitigem Kenntnisstand unabhängig von Autismus-Symptomen zu sehen ist.
Bisher ist Autismus eine rein auf Verhaltensbeobachtung zugrundeliegende Diagnose. Dies wird auch noch eine Weile so bleiben, trotz der rasanten Fortschritte in Neurologie und Genetik.
Es hat jedoch schon Versuche gegeben, verschiedene Autismus-Subtypen anhand der jeweiligen Genotypen einzuteilen, z.B. in einem Artikel von Bruining et al. (2010), Dissecting the Clinical Heterogeneity of Autism Spectrum Disorder through Defined Genotypes:
Sie untersuchten eine große Gruppe an idiopathischen Autisten (n = 372), verglichen sie sowohl mit 47,XXY-Autisten (n = 14) als auch 22q11-deletion-Autisten (n = 39) und wendeten den ADI-R an (diagnostisches Interview), um Unterscheide herauszuarbeiten.
Ergebnis:
Überschneidende Symptome zwischen XXY und 22q11 fehlen, beide Gruppen bilden individuelle Symptome im großen autistischen Spektrum aus. Beide Autisten-Gruppen unterschieden sich wiederum in der schwächeren Ausprägung der Symptome von den idiopathischen Autisten.
Mit anderen Worten:
Bisher teilt man Autismus je nach Verhaltenssymptomen in der Kindheit und im Erwachsenenalter in verschiedene Subgruppen ein: Kanner, Asperger, atypisch, hochfunktional/niedrigfunktional, im amerikanischen DSM-V wird nicht mehr unterschieden, wann jemand sprechen gelernt hat, sondern nur noch die Schweregrad beurteilt: Autismus-Spektrum.
Eine andere Möglichkeit wäre, Autismus dem spezifischen Genotyp zuzuordnen. Ob und wo diese Schubladisierung sinnvoll ist, sei in der Praxis dahingestellt. In den meisten Fällen kann trotz verschiedener genetischer Ursachen der gleiche therapeutische Ansatz hilfreich sein. Diese wissenschaftliche Herangehensweise zeigt jedoch erneut, wie vielfältig individuell Autisten sind, und dass der Ansatz des universellen Autismus-Gens ebenso zu kurz greifen muss wie die des Allheilmittels vorgeschlagener Therapien.
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